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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 65.1929-1930

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Michel, Wilhelm: Menschheits-Entfaltung in der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.9252#0381

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Menschheits-Ent/aliung in der Kunst

FRANZISKA ZACH —WIEN-PARIS

GEMÄLDE »IRISCHES FISCHERDORF<

Überschneidungen der verschiedenen Zuord-
nungssysteme erscheinen bald schroffer, bald
milder — aber in jedem Falle ergibt sich aus
dem Diagramm der Kunst die gewaltige Welt-
rose, in der alle Möglichkeiten und Kräfte der
Menschheit verzeichnet sind. Die Kunst be-
treibt von ihren ersten Anfängen an eine analy-
tische Darstellung der Gesamtmenschheit. Sie
läßt zu bestimmten Zeiten oder in bestimmten
Völkern gewisse Einzelmotive (Sinnesweisen,
Stilweisen, Gegenstände) hervortreten, aber
was da zeitlich oder örtlich gebunden hervor-
tritt, erweist sich immer als aus dem ewigen
Menschheitsbestande hervorgeholt. Alle Ge-
schichte macht immer nur epochenweise ein Stück
Ewigkeit aktuell; so aktualisiert die Kunst, durch
die Zeiten und Regionen hin, immer ein Stück
Menschheit nach dem andern und neben dem
andern. Indem sie einmal die Landschaft ab-
handelt und dann die menschliche Figur, einmal
die Farbe und dann die Linie, einmal die Phan-
tastik und dann das Naturabbild, stellt sie nach-
einander verschiedene Seiten der Menschheit
zur Diskussion; Seiten und Kräfte, die im
ruhenden Urwesen der Menschheit wohl gleich-
wertig sind, die aber nach dem planetarischen
Gesetz, unter dem alles irdische Leben steht,

von Zeit zu Zeit, von Klima zu Klima in ver-
schiedenen Konstellationen und unter verschie-
denen Akzentsetzungen erscheinen müssen.
Man spricht von den „Problemen" der ver-
schiedenen Zeiten. Aber diese „Probleme"
werden nie im eigentlichen Sinne „gelöst",
sie werden dadurch überwunden, daß sie ihr
Interesse, ihre erregende Kraft verlieren und
hinter neuen Problemen zurücktreten. Und ge-
rade darin erweist sich ihre Herkunft aus dem
ewigen Motivbestand der Menschheit. Das
Motiv des Menschenhasses (das es bei Goethe,
Tieck, Kotzebue gibt), das Motiv Nana oder Lulu
ist augenblicklich nicht „aktuell". Das heißt
aber keineswegs, daß es diese Motive nun nicht
mehr gibt, sondern sie sind nur ins Schweigen
zurückgekehrt und können jederzeit wieder her-
vortreten, sobald eine entsprechende Geistes-
lage der Menschheit irgendwo wiederkehrt.
Das läßt sich an den gleichartigen Erscheinun-
gen der Vergangenheit zuverlässig erweisen.

Menschlich-Ewiges, in Fragmenten durcli die
verschiedenen Zeiten und Regionen hin aktu-
alisiert — das ist alles Kunstschaffens großer
Gegenstand, gleich geeignet, um das Ruhig-
Dauernde wie das Leidenschaftlich-Bewegte
des Menschenwesens darzustellen und zu deuten.
 
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