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Engelberg, Meinrad von
Renovatio Ecclesiae: die "Barockisierung" mittelalterlicher Kirchen — Petersberg: Imhof, 2005

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https://doi.org/10.11588/diglit.62514#0018
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I. „Renovatio Ecclesiae" - Zum Gegenstand der Arbeit

6 Der negative Gebrauch des Wortes „Barock"
im Sinne einer späten, verderbten Redaktion
ehemals klassischer Formen findet sich

schon vor der Konkretisierung des Epo-
chenbegriff. Heinrich Gentz kritisierte 1806
in seinem „Elementarzeichenwerk" das Ka-
pitell des römischen Concordia- (Saturn-)
Tempels als „schlecht und barok compo-
niert', weil der Bau „erst spät, gegen oder
unter der Regierung des Constantin erbaut
wurde." Hier zit. nach Michael Bolle in
Wegner 2000, S. 161. Schon die Encyclope-
die Diderots (1758) kennt „baroque" als ne-
gative Bezeichnung für den Stil Borrominis
und Guarinos. Siehe Kerry Downes in Tur-
ner-Grove 1996, Bd. 3, S. 260. Goethe cha-
rakterisiert in seinen Paralipomena zur Bau-
kunst (1795) „Barock" durch eine Kette ne-
gativer Schlagworte: „Verfall. Begriff von
Eindruck ohne Sinn für Charackter. Sinn für
Pracht und Größe. Gemeines Erstaunen zu
erregen. [...]";hier zit. nach Telesko 1999, S.
294.
7 Kraus 1887, S. 129.
8 lls 1896, S. 56.

von 50 ausgewählten Beispielen süddeut-
scher Kirchenrenovierungen ergänzt, wel-
che die Vielfalt möglicher Umgestaltungen
in einem exemplarischen Überblick präsen-
tieren soll.
2. Terminologie: „Barockisierung“
oder „Renovatio"?
„Historische Neuschöpfungen von Ausstat-
tungen und Einrichtungen sakraler oder
profaner Monumentalbauten werden im
deutschen Sprachgebrauch gerne etwa mit
„Gotisierung“ oder „Barockisierung“ be-
zeichnet. Abgesehen von solch unschöner
Wortbildung ist schon die Anwendung ein
und desselben Stilbegriffes auf Jahrhun-
derte mit verschiedenartigen Kunstströmun-
gen und Kunstrichtungen meist problema-
tisch genug. Die Schwierigkeiten vermehren
sich, wenn man diese Benennungen mit
Staatsgrenzen des 20. Jahrhunderts verbin-
det, wie dies jüngst in Baden-Württemberg
geschah. “
(Franz Wagner: „Die erste Barockisierung
der Stiftskirche St. Peter [...] “ in Festschrift
St. Peter 1982).
Die von Franz Wagner formulierte Skepsis
gegenüber der bisherigen pauschalisieren-
den Betrachtung des Phänomens wird hier
geteilt, wobei im Unterschied zu dem oben
zitierten Autor der inkriminierte Begriff
„Barockisierung“ hier auch tatsächlich ver-
mieden bzw. durch einen vielleicht taug-
licheren ersetzt werden soll.
In der sperrigen Terminologie spiegelt sich
zugleich auch die weitgehende Ablehnung
der so benannten architektonischen Auf-
gabe selbst6: So sucht Franz Xaver Kraus
in seinem Inventarband zum Konstanzer
Münster0 1887 nach dem rechten Begriff
für die von ihm kritisierte frühklassi-
zistische Umgestaltung des Chores. „1 775,
Januar 16: Accord zwischen dem Kapitel
und dem Baumeister d’Hixnard behufs
Erneuerung (bez. Verzapfung und Rocailli-
sirung) des Chors. [...] D’Hixnard erhielt
für diese Verzapfung 20 000 Gulden (!).

Die Details dieses traurigen Werkes siehe
in den Protokollen“^...] Jakob lls bezeich-
net die Umgestaltung von Ochsenhausen
als „Entgotisierung zu Gunsten der ‘wäl-
schen Art’“8.
Es geht aber nicht nur um eine neue Ter-
minologie, sondern zugleich auch um eine
neue, unvoreingenommene Betrachtung
des Phänomens selbst. Daher hat diese Ar-
beit keine a priori formulierte These im
Sinne eines „quod erit demonstrandum“. Ei-
ne solche deduktive Vorgehensweise wird
vielmehr als bedenklich betrachtet und aus
prinzipiellen Erwägungen abgelehnt: Wer
weiß, was er sucht, unterliegt allzu oft der
Gefahr, das und nur das zu finden, was er
bereits vorher zu wissen glaubte. Vielmehr
sollen die bisher formulierten Thesen und
Interpretationen zur Umgestaltung mittel-
alterlicher Kirchen - der sogenannten „Ba-
rockisierung“ - einer kritischen Prüfung
anhand des Materials unterzogen werden.
Die bisherige „Fortuna Critica“ der „Barocki-
sierungen“ wird im folgenden Kapitel zum
Stand der Forschung dargestellt. Hier sol-
len zunächst nur einige jener geläufigen
Thesen resümiert werden, die bisher zur
„Barockisierung“ aufgestellt wurden und
die vielfältigen Deutungsmöglichkeiten des
Phänomens belegen, welche in dieser Arbeit
überprüft werden sollen:
- „Barockisierungen“ sind das Ergebnis des
Versuchs der Gegenreformation und hier
besonders der Jesuiten, einer nordalpinen,
vom Geist der Gotik und des beginnenden
Protestantismus geprägten Bautradition
fremde italienische Prinzipien aufzuzwin-
gen und die Gläubigen somit wieder rö-
mischer Oboedienz zu unterwerfen (Gur-
litt 1887, S. 222ff; Gurlitt 1889 S. 144).
- „Barockisierungen“ zeugen von einer ver-
änderten künstlerischen Abwägung zwi-
schen Alt und Neu: Während in der Re-
naissance die Entscheidung noch „Entwe-
der erhalten oder völlig neu bauen“ ge-
lautet hätte, wird die Einbeziehung des al-
ten Baubestandes nun als besonderer Reiz
und gestalterische Herausforderung emp-
funden (Dvorak 1907 (ND 1929), S.
273-277 zu Borrominis Lateranumbau).

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