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Engelberg, Meinrad von
Renovatio Ecclesiae: die "Barockisierung" mittelalterlicher Kirchen — Petersberg: Imhof, 2005

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https://doi.org/10.11588/diglit.62514#0046
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C. ZUR FORSCHUNGSGESCHICHTE DER „BAROCKISIERUNG"

163 Thünker 1945, Liebold 1981.
164 P. Stefan Schaller in Ettal 1970, S. 112.
165 Barthel 1971, S. 11.
166 Vergl. zum Problem der „Nacktheit" puri-
fizierter Kirchen am Beispiel des Bamber-
ger Domes Hans-Schuller 2000; zum Re-
gensburger Dom° Loers 1976, Raasch
1980; zur Münchner Frauenkirche Knopp
1972; für das Rheinland Hoffmann 1995,
bes. S. 33-48.
167 Strobel / Weis 1994, S. 37: „Am ehesten
vermitteln solche Innenräume einen
mittelalterlichen Eindruck, die Spuren von
Farbigkeit tragen, und sei sie auch nur
teilweise original und neuromanisch er-
gänzt“.D\e Diskussion um Steinsichtigkeit
oder rekonsturierte Farbigkeit prägte be-
reits das 19. Jh.. Franz Joseph Schwarz,
Pfarrer der „barockisierten" Stiftskirche
von Ellwangen", setzte sich in seiner 1882
erschienenen Monographie über diese
Kirche für eine Wiederherstellung des
„Originalzustandes" ein, dessen gemut-
maßte Schmucklosigkeit er für den ei-
gentlichen Auslöser der barocken Umge-
staltung hielt: „Niemals war - auffalllend
genug - der kalte Stein der Innenwände
durch Gemälde oder farbenprächtige De-
korationen erwärmt. [...] Wie mochte dies
auf die Zeitgenossen wirken, welche nur
noch die luxuriösen Gebilde der abster-
benden Renaissance oder des Zopfes für
schön erachten! Genug: Der unselige Ent-
schluß reifte zur Tat!" Der Autor spricht
sich dennoch für eine neoromanische Be-
malung der freizulegenden Wandflächen
aus: „Offen gestanden: Wir fürchten die
puristische Schule! [...] Farblos ist nur der
Tod." Siehe Schwarz 1882, S. 47-50, Abb.
21 und 23.
Erst die Materialästhetik der Moderne
und ihre Vorliebe für große ungestaltete
Flächen führte nach 1900 zur Durchset-
zung der angeblich „originalen" Stein-
sichtigkeit, die wiederum die Entfernung
früherer historistischer Bemalungen zur
Folge hatte. Ein charakteristisches Bei-
spiel hierfür ist der ab 1909 restaurierte
Mainzer Dom°.

Obwohl Anzahl und Bedeutung der Denk-
mäler die Renovatio als ein Hauptgebiet
des barocken Kirchenbaus ausweisen, fehlt
bislang eine alle Aspekte umfassende Über-
blicksarbeit zu diesem Thema. Bis heute
sind zu den süddeutschen „Barockisierun-
gen“ nur zwei vergleichende und an Grund-
satzfragen orientierte Arbeiten entstan-
den163. Hier soll daher ein Überblick zur Be-
wertung dieses Phänomens in der allge-
meinen Forschungsliteratur zum süddeut-
schen Barock der letzten 150 Jahre versucht
werden, der in drei Abschnitte entsprechend
den hauptsächlichen Entwicklungsschritten
der Kunstwissenschaft eingeteilt ist: die frü-
he Forschung bis ca. 1920, die Zwischen-
kriegszeit bis 1945 und abschließend die Ar-
beiten der zweiten Jahrhunderthälfte.
Einleitend sollen aber Gründe für die ge-
ringe Beachtung aufgezeigt werden, die die
Kunstwissenschaft diesem Thema bisher zu-
gewandt hat. Warum sind „Barockisierun-
gen“ so unbeliebt oder so uninteressant?
1. Ein Stiefkind der Forschung: Zur
„Fortuna Critica“ der Renovatio
„Freilich übergehen mitunter große Werke
über Barock und Rokoko die Ettaler Kirche,
haßet ihr doch der Makel des Umbaus
an. “164
Den primären Grund für das geringe Inter-
esse am Thema kann jeder erfahren, der
sich häufiger in solchen Kirchen aufhält
und den Gesprächen nicht-fachlicher Be-
sucher zuhört - in diesem Falle liegt, so
scheint es, die Forschungs- und Publi-
kumsmeinung nicht allzuweit auseinander,
wie das Eingangszitat belegt.
Während in barocken Neubauten seit Jahr-
zehnten allgemeine Bewunderung und
emotionale Zustimmung zum guten Ton

gehört, mischt sich beim Besuch einer ba-
rockisierten Kirche schnell ein Unterton des
Bedauerns und des leichten Mißfallens in
das Kunsturteil: Man erkennt - oft erst un-
ter Mühen - , daß man ja „eigentlich“ in ei-
ner gotischen Kirche stehe und es natürlich
viel schöner wäre, wenn diese noch so aus-
sähe wie bei ihrer Erbauung, aber sie sei ja
nun eben „leider barockisiert“ worden: „Es
gibt auch romanische Räume, die dasselbe
Schicksal erlitten“ 165 [sic!].
In den meisten Fällen assoziieren die heu-
tigen Besucher mit dem schmerzlich ver-
mißten angeblich „originalen“ Zustand je-
ne ausgenüchterte Ästhetik der steinsichti-
gen Kahlheit, die das 20. Jahrhundert dem
Mittelalter als „eigentlich“ zugewiesen hat.
Dies entspricht bekanntlich keineswegs der
Ästhetik der Erbauungszeit: Manches hi-
storistische Farbkonzept166 kam der ur-
sprünglichen Raumwirkung wahrscheinlich
näher als die von der Moderne propagierte
Rohbauästhetik, welche heute die wieder-
aufgebauten Hildesheimer Kirchen der
Nachkriegszeit oder den Würzburger Dom0
- alle ehemals barockisiert - prägt167.
Die „Barockisierung“ leidet bis heute unter
dem Ruch der anmaßenden, unsensiblen
Denkmalschändung, auch wenn man die
Farbenpracht der Fresken, die prunkvolle
Stuckdekoration und die Virtuosität der
„Verwandlungskünstler“ bewundern mag.
Daß auch die Forschung von solchen „po-
pulären“ Vorbehalten nicht frei ist, beweist
- als beliebig herausgegriffenes Beispiel -
die Charakterisierung der durchaus dezent
und geschickt „barockisierten“ evangeli-
schen Kirche von Himmelkron in Franken
<4-5>, einem ehemaligen Zisterzienserin-
nenkloster: Helmuth Meißner, ein ausge-
wiesener Spezialist für den evangelischen
Kirchenbau des Barock, urteilte in seinem
Kirchenführer von 1970, die Kritik des Be-
suchers vorausahnend:

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