G | Regensburg
vollen Architektur immer gesehen und
wertgeschätzt wurde. Das Hauptargument
vieler tiefgreifender Renovationes, nämlich
die Erfordernisse der Würde eines Gottes-
hauses und die Steigerung der Andacht bei
den Gläubigen („promotione piarum cau-
sarum“, vergl. Eichstätt), erschienen hier
vielleicht schon durch den gotischen Bau
ausreichend gewährleistet. Anders als in
der kargen und dunklen romanischen Do-
men von Freising und Würzburg sprach
man dieser Kathedralarchitektur wohl eine
eigene Würde und ästhetische Qualität zu,
die nicht so sehr nach Umformung ver-
langte, um den Ansprüchen einer Bi-
schofskirche zu genügen.
Wir besitzen für Regensburg ein rares
Zeugnis dieser Denkweise. Wenn es auch
nicht von einem der Entscheidungsträger
des Bistums stammt, so zeigt es doch zu-
mindest, daß ein Betrachter des 17. Jahr-
hunderts zu diesem Urteil gelangen konn-
te. Veit Loers zitiert aus der „Ratisbona“, der
1615 verfaßten Beschreibung Regensburgs
des Prüller Karthäuserpaters und Chroni-
sten Franciscus Hieremias Grienewaldt460,
in der jede nicht stilgemäße Veränderung
der Domarchitektur abgelehnt wird:
„Im Eingang bringt ainem die Kirch Ihrer
iveitt leng hoch und groß halber aber gro-
ße Verwunderung, sonderlich aber wo sy ai-
ner nur hinkert nichts anders siecht alß das
ryttel von großen stainen gehawen und ne-
ben der Kunst ein barlichß doch andechti-
ges Alter anzaigt. Dann wo man an bild-
nissen, Altären und Wenden etwaß mit fär-
ben will vernewern, so bringt doch dassel-
be kein Zier und stimmet mit dem Altfrün-
khischen (also Zierden) und mit der alten
ersten proportion nicht ein, also das besser
man dasselbe bey seiner ersten gestalt las-
se und dem lieben Alter mit der ernewung
kein ungestalt mache, Wie das an vielen er-
newerten bildern abzunehmen.“
Dieser Text ist um so erstaunlicher, als zu
Grienewaldts Zeit erst wenige „Barockisie-
rungen“ zu sehen waren. Man muß somit
in Betracht ziehen, ob es sich nicht um ei-
ne grundsätzliche Bevorzugung gotischer
Formen gegenüber der modischen „Erne-
wung“ der Kirchenräume insgesamt han-
delt. Grienewaldt war Konvertit; er wollte
seine protestantischen Mitbürger von der
früheren Größe der Stadt überzeugen und
„zur Rückkehr zum „alten Glauben“ be-
wegen“46', Werte, die er als Historiker wohl
am überzeugendsten in der alten Baukunst
repräsentiert sah. Kurz zuvor war das Klo-
ster des Verfassers, die Kartause von
Prüll0462, „barockisiert“ worden <VE35)>,
und man gewinnt den Eindruck, der Chro-
nist sei von dem Ergebnis nicht gerade be-
geistert gewesen. Daß Grienewaldt mit sei-
ner Meinung nicht allein stand, belegt die
in den selben Jahren durch den kämpferi-
schen Fürstbischof Albert von Törring463
betriebene Einwölbung der westlichen
Langhausjoche: Hier kann Konformität tat-
sächlich einmal als Ausdruck katholischen
Kontinuitätsdenkens verstanden werden.
Dennoch ist es bezeichnend, daß ein sol-
ches Urteil gerade über die Regensburger
Kathedrale fällt, also eine Architektur, die
in sich stimmig (proportion} und von ho-
hem ästhetischen Eigenwert (altfrün-
khisch also Zierden} ist. Dies könnte ein
Hinweis dafür sein, daß „Französische“
Renovatio und „französische“ Wertschät-
zung der gotischen Ästhetik tatsächlich in
einem ursächlichen Zusammenhang ste-
hen. Hierfür sprechen auch die oben er-
wähnten, in der Druckgrafik verbreiteten
Visionen einer gotischen Vollendung des
Regensburger Domes464, auch wenn diese
genau betrachtet barocke Phantasmag-
orien sind.
Somit wäre der Verzicht auf eine tiefgrei-
fende „Barockisierung“ in Regensburg
nicht nur ein Negativbefund, sondern zu-
gleich Ausdruck einer gewissen Zufrieden-
heit mit dem Status quo, einer selbstbe-
wußten Wertschätzung des imposanten
Torsos, den man ererbt hat. Der silberne
Hochaltar, das einzige Relikt der barocken
Domausstattung, ist ein treffliches Beispiel
für die rücksichtsvolle, aber dennoch
höchst ambitionierte Auseinandersetzung
mit diesem Erbe.
460 Manuskript in der Bayerischen Staatsbi-
bliothek München, Cgm 5529, S. 150f,
hier zit. nach Loers 1976, S. 240. Zu Grie-
newaldt siehe Bosl 1983; Wurster 1980,
S. 172ff.
461 Wurster 1980, S. 174. Grienewaldt könn-
te somit als Zeuge für die konfessionelle
Auffassung der Gotik verstanden werden.
Die Erbauer der Regensburger ev. Drei-
einigkeitskirche <114f> oder der Bay-
reuther Stadtkirche teilten seine Meinung
offenbar nicht, denn sie entschieden sich
ebenso für gotische Formen.
462 Vergl. VI.35.
463 Törring hatte 1630 in einer Phase militä-
rische Erfolge den Fürsten der Liga zuge-
sagt, die Protestanten aus der Stadt zu
vertreiben oder wieder dem „rechten
Glauben" zuzuführen. Siehe Schmid 1996,
S. 51.
464 Ähnliche Projekte wurden auch 1633 für
St. Stephan in Wien und 1665 für Straß-
burg entwickelt, wobei die unvollendet
gebliebenen zweiten Türme fertiggestellt
werden sollten. Götz 1984, S. 62.
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vollen Architektur immer gesehen und
wertgeschätzt wurde. Das Hauptargument
vieler tiefgreifender Renovationes, nämlich
die Erfordernisse der Würde eines Gottes-
hauses und die Steigerung der Andacht bei
den Gläubigen („promotione piarum cau-
sarum“, vergl. Eichstätt), erschienen hier
vielleicht schon durch den gotischen Bau
ausreichend gewährleistet. Anders als in
der kargen und dunklen romanischen Do-
men von Freising und Würzburg sprach
man dieser Kathedralarchitektur wohl eine
eigene Würde und ästhetische Qualität zu,
die nicht so sehr nach Umformung ver-
langte, um den Ansprüchen einer Bi-
schofskirche zu genügen.
Wir besitzen für Regensburg ein rares
Zeugnis dieser Denkweise. Wenn es auch
nicht von einem der Entscheidungsträger
des Bistums stammt, so zeigt es doch zu-
mindest, daß ein Betrachter des 17. Jahr-
hunderts zu diesem Urteil gelangen konn-
te. Veit Loers zitiert aus der „Ratisbona“, der
1615 verfaßten Beschreibung Regensburgs
des Prüller Karthäuserpaters und Chroni-
sten Franciscus Hieremias Grienewaldt460,
in der jede nicht stilgemäße Veränderung
der Domarchitektur abgelehnt wird:
„Im Eingang bringt ainem die Kirch Ihrer
iveitt leng hoch und groß halber aber gro-
ße Verwunderung, sonderlich aber wo sy ai-
ner nur hinkert nichts anders siecht alß das
ryttel von großen stainen gehawen und ne-
ben der Kunst ein barlichß doch andechti-
ges Alter anzaigt. Dann wo man an bild-
nissen, Altären und Wenden etwaß mit fär-
ben will vernewern, so bringt doch dassel-
be kein Zier und stimmet mit dem Altfrün-
khischen (also Zierden) und mit der alten
ersten proportion nicht ein, also das besser
man dasselbe bey seiner ersten gestalt las-
se und dem lieben Alter mit der ernewung
kein ungestalt mache, Wie das an vielen er-
newerten bildern abzunehmen.“
Dieser Text ist um so erstaunlicher, als zu
Grienewaldts Zeit erst wenige „Barockisie-
rungen“ zu sehen waren. Man muß somit
in Betracht ziehen, ob es sich nicht um ei-
ne grundsätzliche Bevorzugung gotischer
Formen gegenüber der modischen „Erne-
wung“ der Kirchenräume insgesamt han-
delt. Grienewaldt war Konvertit; er wollte
seine protestantischen Mitbürger von der
früheren Größe der Stadt überzeugen und
„zur Rückkehr zum „alten Glauben“ be-
wegen“46', Werte, die er als Historiker wohl
am überzeugendsten in der alten Baukunst
repräsentiert sah. Kurz zuvor war das Klo-
ster des Verfassers, die Kartause von
Prüll0462, „barockisiert“ worden <VE35)>,
und man gewinnt den Eindruck, der Chro-
nist sei von dem Ergebnis nicht gerade be-
geistert gewesen. Daß Grienewaldt mit sei-
ner Meinung nicht allein stand, belegt die
in den selben Jahren durch den kämpferi-
schen Fürstbischof Albert von Törring463
betriebene Einwölbung der westlichen
Langhausjoche: Hier kann Konformität tat-
sächlich einmal als Ausdruck katholischen
Kontinuitätsdenkens verstanden werden.
Dennoch ist es bezeichnend, daß ein sol-
ches Urteil gerade über die Regensburger
Kathedrale fällt, also eine Architektur, die
in sich stimmig (proportion} und von ho-
hem ästhetischen Eigenwert (altfrün-
khisch also Zierden} ist. Dies könnte ein
Hinweis dafür sein, daß „Französische“
Renovatio und „französische“ Wertschät-
zung der gotischen Ästhetik tatsächlich in
einem ursächlichen Zusammenhang ste-
hen. Hierfür sprechen auch die oben er-
wähnten, in der Druckgrafik verbreiteten
Visionen einer gotischen Vollendung des
Regensburger Domes464, auch wenn diese
genau betrachtet barocke Phantasmag-
orien sind.
Somit wäre der Verzicht auf eine tiefgrei-
fende „Barockisierung“ in Regensburg
nicht nur ein Negativbefund, sondern zu-
gleich Ausdruck einer gewissen Zufrieden-
heit mit dem Status quo, einer selbstbe-
wußten Wertschätzung des imposanten
Torsos, den man ererbt hat. Der silberne
Hochaltar, das einzige Relikt der barocken
Domausstattung, ist ein treffliches Beispiel
für die rücksichtsvolle, aber dennoch
höchst ambitionierte Auseinandersetzung
mit diesem Erbe.
460 Manuskript in der Bayerischen Staatsbi-
bliothek München, Cgm 5529, S. 150f,
hier zit. nach Loers 1976, S. 240. Zu Grie-
newaldt siehe Bosl 1983; Wurster 1980,
S. 172ff.
461 Wurster 1980, S. 174. Grienewaldt könn-
te somit als Zeuge für die konfessionelle
Auffassung der Gotik verstanden werden.
Die Erbauer der Regensburger ev. Drei-
einigkeitskirche <114f> oder der Bay-
reuther Stadtkirche teilten seine Meinung
offenbar nicht, denn sie entschieden sich
ebenso für gotische Formen.
462 Vergl. VI.35.
463 Törring hatte 1630 in einer Phase militä-
rische Erfolge den Fürsten der Liga zuge-
sagt, die Protestanten aus der Stadt zu
vertreiben oder wieder dem „rechten
Glauben" zuzuführen. Siehe Schmid 1996,
S. 51.
464 Ähnliche Projekte wurden auch 1633 für
St. Stephan in Wien und 1665 für Straß-
burg entwickelt, wobei die unvollendet
gebliebenen zweiten Türme fertiggestellt
werden sollten. Götz 1984, S. 62.
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