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Engelberg, Meinrad von
Renovatio Ecclesiae: die "Barockisierung" mittelalterlicher Kirchen — Petersberg: Imhof, 2005

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https://doi.org/10.11588/diglit.62514#0289
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H | Konstanz

schiedener Renovatio-Epochen geführt hat
und alle Stilstufen unseres Untersu-
chungszeitraums von der Nachgotik bis
zum Frühklassizismus exemplarisch vereint
(VI.20).
Durch den Verlust des Domkirchenstatus
1821 blieb dem Münster eine so tiefgrei-
fende Purifizierung wie etwa in Regens-
burg, Speyer, Eichstätt oder Augsburg er-
spart, so daß die Ausstattungskampagnen
zwischen Reformation und Säkularisation
noch weitgehend ablesbar sind467.
1. Späte Nachgotik im Zeichen
der Gegenreformation?
Das Konstanzer Liebfrauenmünster ist eine
dreischiffige Basilika mit westlicher Drei-
turmfassade, ausladendes Querhaus und
kurzem querrechteckigen Chor, die sich au-
ßen und innen als vorherrschend gotischer
Bau präsentiert, während das Mittelschiff
durch seine monolithen Säulen < 186> un-
ter Rundbögen noch auf den salischen Kern
verweist.
Die glatte Obergadenwand über den Haupt-
schiffsarkaden besitzt außer den Fenstern
keine vertikale Gliederung, sondern wird
von einem durchlaufenden Gesims in zwei
horizontale Zonen geteilt. Der obere Raum-
abschluß besteht aus einem Tonnengewöl-
be mit tiefen Stichkappen, in denen große
Rundbogenfenster liegen. Die Wölbung
selbst wird von weichen, weitschwingenden
Netzrippen gegliedert, die an die Formen
der spätesten Gotik in Obersachsen und
Böhmen erinnern <185>. Die Gesamtwir-
kung ist gut mit der ersten Renovatio des
Würzburger Domes <197> zu vergleichen
(vergl. III.I), die allerdings schon zwei Ge-
nerationen früher (1614) abgeschlossen
worden war.
Die Konstanzer Backsteintonne mit Stuck-
rippen468 datiert aus der spätesten Zeit der
Nachgotik: Sie entstand 1679 und ersetzte
eine romanische bemalte Flachdecke469. Die
Einwölbung des Mittelschiffs setzte den
Endpunkt einer sich über Jahrhunderte er-
streckenden Gotisierungskampagne des ro-

manischen Baus, die von den Reforma-
tionswirren unterbrochen worden war.
Auf die Rolle der Nachgotik als einer be-
sonderen Spielart bzw. einen Gegenentwurf
zur „Barockisierung“ wurde im Zu-
sammenhang von Renovatio und Konfes-
sionsfrage in Deutschland (II.D.l) grund-
sätzlich eingegangen. Es muß aber auch für
Konstanz die Frage gestellt werden, warum
man sich in der Epoche des aufblühenden
Hochbarocks470 für eine so betont histori-
sierende Form der Renovatio entschied. Es
liegt nahe, hierfür nicht allein ästhetische,
sondern auch inhaltliche Gründe zu ver-
muten.
Man hat der Nachgotik mit Blick auf die Je-
suitenkirchen des Rheinlands wiederholt

eine dezidiert gegenreformatorische Pro-
grammatik unterstellt, die für Konstanz be-
sondere Relevanz hätte: Immerhin war die
Kirche nach 1526 einem konsequenten Bil-
dersturm ausgesetzt gewesen, bei dem
Skulpturen und Reliquien gleichermaßen
vernichtet wurden. Die Rückkehr zu den
traditionellen Bauformen und die Vollen-
dung der unterbrochenen gotischen Erneu-
erung der Kirche hätten hier somit, gleich-
sam als Tilgung und Umkehrung der pro-
testantischen Eingriffe, durchaus ihre kon-
fessionspolitische Berechtigung gehabt. Es
ist aber auffällig, daß diese „Fortsetzung“
des Umbaus mit 150-jähriger Verspätung
erfolgte und somit kaum als konkrete Re-
aktion auf die Glaubensspaltung gedeutet
werden kann: Zu dieser Zeit hatten die Ka-
tholiken in der Stadt längst wieder die
Mehrheit zurückgewonnen471. Außerdem ist
zu bedenken, daß es sich bei der Mittel-
schiffswölbung nicht wie beim Chor von
Augsburg - St. Ulrich und Afra“ um die
Vollendung eines durch die Reformation
liegengebliebenen Torsos handelte, sondern
die neue Tonne eine uralte romanische
Flachdecke, und somit einen echten Zeugen
des „Alten Glaubens“ ersetzte472. Hierdurch
verliert die Maßnahme viel von ihrer ver-
meintlichen konfessionellen Aussagekraft,
ja sie wird geradezu zur Fortsetzung der
evangelischen „Purifizierung“ mit anderen
Mitteln.

467 Reiners 1955, S. 77-83. Die von Essen-
wein, dem Direktor des Germanischen
Nationalmuseums in Nürnberg 1879 vor-
geschlagene Beseitigung der nachgoti-
schen Mittelschiffswölbung und Wieder-
herstellung einer Flachdecke unterblieb.
468 Reiners 1955, S. 169f, Abb. 54.
469 Rekonstruktion der Bemalung nach Re-
sten in Kraus' 1887, Taf. II bei S. 138.
470 Der romanische Chor von Steingaden0
war bereits 1664 barock umgestaltet
worden, gleichzeitig mit der Langhaus-
wölbung in Konstanz erfolgte der Wieder-
aufbau des Passauer Domes“.
471 Kat. Konstanz 1996, S. 34ff.
472 Gröber 1948, S. 91, nimmt ästhetische
Gründe an: „Helle, freundliche Räume
wollte man, keine ins Zwielicht getauch-
te. [... So] fiel leider auch die alte romani-
sche Holzdecke, deren ehrwürdige schwe-
re Farbenpracht schon lange ein Dorn im
Auge der Barockleute gewesen war, dem
Weißhunger zum Opfer."

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