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Engelberg, Meinrad von
Renovatio Ecclesiae: die "Barockisierung" mittelalterlicher Kirchen — Petersberg: Imhof, 2005

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https://doi.org/10.11588/diglit.62514#0490
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IV. Grundfragen der Renovatio

le dekorativen Mittel ihrem Primat unter-
wirft. Gegen Ende dieser Phase entsteht,
geprägt vom in Wessobrunn entwickelten
Bandwerkstuck, eine Gruppe besonders sen-
sibler Verschmelzungen von mittelalter-
lichen Bauten und moderner, dezenter De-
koration, die als Höhepunkt der süddeut-
schen Renovatio bezeichnet werden können.
Die dritte Stufe der Renovatio von ca.
1730-1770 entspricht jener Phase, die in
der bisherigen Forschung meist als „süd-
deutsches Rokoko“ bezeichnet wurde. Die-
ser in seiner Definition umstrittene Begriff
wird hier als ungenau und nicht zutreffend
zurückgewiesen, weil der Charakter der so
bezeichneten Kirchen nicht durch die Or-
namentform der Rocaille, sondern durch die
Vorherrschaft der Fresken und das Ideal ei-
ner synästhetischen Verbindung aller Me-
dien zu einem einheitlichen Raumbild ge-
prägt wird. Der spezifische Charakter die-
ser Kirchen wird hier versuchsweise als
„Erlebnisraum“ bezeichnet und als eine Per-
fektionierung der römischen Ideale des „Bel
composto“ verstanden. Im Unterschied zu
einigen vor allem von der deutschen For-
schung formulierten Definitionen des „Ro-
koko“ darf diese Stilphase nicht als Bruch
oder Gegenentwurf zum Barock, sondern
als integral mit ihm verbundene letzte Stei-
gerung seiner Mittel und Absichten, als
„Spätbarock“ gedeutet werden.
Der „Erlebnisraum“ ist geprägt von einer
ausschließlichen Konzentration auf die
Wirkung des Kirchenbaus für den Laienbe-
sucher. Der Gläubige muß sich hierfür
allerdings selbständig in diesem Raum be-
wegen, um ihn angemessen zu rezipieren,
was einem statischen „bildhaften“ Ver-
ständnis dieses Konzepts widerspricht.
Die angestrebte ästhetische Geschlossenheit
führt zur einseitigen Bevorzugung „Italieni-
scher“ Renovationes in dieser Phase. Es ist
daher unzutreffend, gerade dem „Rokoko“
eine besondere Affinität zum Mittelalter zu
unterstellen. Vielmehr erlaubt die absolute
Vorherrschaft der dekorativen Künste, sich
über alle bisher bestehenden Vorbehalte bei
der Überformung älterer Räume hinwegzu-
setzen. Deshalb entstammt die Mehrzahl der

„Italienischen“ Renovationes dieser Stilpha-
se, in der die größte ästhetische Annäherung
der Umgestaltungen an den gleichzeitigen
Neubau festgestellt werden kann.
Die Einflüsse der Aufklärung auf dieses
Konzept sakraler Kunst sind gering; der
„Erlebnisraum“ kann vielmehr als populi-
stisch-antiaufklärischer Gegenentwurf be-
schrieben werden, der in seiner Orientie-
rung auf sinnliche Werbestrategien zur An-
fachung einer betont unintellektuellen
Volksfrömmigkeit auf zunehmende Ableh-
nung der gebildeten Schichten, zuletzt auch
in kirchlichen Kreisen, trifft.
Mit dem Übergreifen des Frühklassizismus
auf Süddeutschland um 1770 beginnt die
vierte Phase der Renovatio, die jedoch nicht
mit ihrem Ende gleichgesetzt werden soll-
te. Es ist vielmehr zu konstatieren, daß die
süddeutschen Klöster als Hauptträger des
Kirchenbaus den Stilwandel selbstbewußt
und entschlossen mittragen, weil er als ei-
ne durchaus berechtigte Korrektur, als Re-
formschritt und als nicht prinzipiell kir-
chenfeindlicher Angriff verstanden wird.
Auch in dieser Phase ist die „Italienische“
Renovatio noch vorherrschend, tritt aber
nicht mehr mit der Ausschließlichkeit der
vorigen Jahre auf. In jenem Maße, in dem
die „Wahrheit der Architektur“ gegenüber
der sinnlichen Raumwirkung an Bedeutung
gewinnt, nehmen auch Achtung und Ver-
ständnis für die Eigengesetzlichkeit mittel-
alterlicher Räume wieder zu. Die erneute
Trennung der Gattungen in Architektur,
Malerei und Ausstattung und die Zurück-
drängung des Stucks führen zu neuen,
durchaus überzeugenden Ansätzen bei der
Modernisierung alter Kirchenräume, die
durch das politische Ende der Reichskirche
nach 1803 jedoch jäh abgebrochen wer-
den. Insgesamt nimmt die Zahl der Reno-
vationes in den letzten Jahrzehnten des
Jahrhunderts deutlich ab, weil die Hoch-
blüte des süddeutschen Spätbarock den
Bedarf zunächst gestillt hat und die zu-
nehmende Kritik an den bisherigen For-
men der Glaubensvermittlung durch
prunkvolle Ausstattungen den Eifer hier-
für erlahmen läßt.

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