V. Die Renovatio mittelalterlicher Kirchen
partielle Umgestaltung beschränken, den
mittelalterlichen Raum aber nicht grundle-
gend verändern, sondern auf einen Kontrast
zwischen neuer Ausstattung und alter Ar-
chitektur abzielen.
In den habsburgischen Ländern findet man
besonders oft den „Historisierenden“ Modus
der Renovatio, bei dem mittelalterliche For-
men in die Neugestaltung einbezogen und
derart mit barocken Formen verschmolzen
sind, daß aus Alt und Neu eine untrennba-
re Einheit entsteht.
Als Extreme möglichen Umgangs mit alter
Bausubstanz sind außerdem solche Reno-
vierungen zu berücksichtigen, bei denen
entweder in konformer Stilangleichung die
mittelalterlichen Bauten unverändert fort-
geführt wurden oder der mittelalterliche
Charakter der Bausubstanz durch einen
Umbau so sehr verändert wurde, daß von
einem „Quasi-Neubau“ gesprochen werden
kann.
Die rücksichtsvolle Behandlung des mittel-
alterlichen Erbes in Frankreich (II.B) und
Böhmen (II.C) hatte nicht nur ästhetische,
sondern auch religionspolitische Gründe.
In Frankreich wurden die mittelalterlichen
Kirchen als nationales Erbe geschätzt; zu-
gleich erfuhr die Gotik eine ideologische
Aufladung als „königlicher“ und „katholi-
scher Stil“. Diese eindeutige politische und
konfessionelle Konnotation ist nur auf-
grund der aggressiven Ablehnung zu ver-
stehen, welche die Hugenotten eben diesem
Erbe entgegenbrachten. Zerstörung und
Wiederaufbau der Kathedrale von Orleans
kann hierfür als paradigmatisch verstanden
werden.
Die in den Schriften Abbe Laugiers ge-
machten Vorschläge zur Umgestaltung go-
tischer Kirchen sind ein wichtiges Zeugnis
für die vor allem auf konstruktive Qualitä-
ten ausgerichtete Gotikbegeisterung in
Frankreich, auch wenn seine Ideen kaum je
verwirklicht wurden.
Eine ähnlich emphatische, religionspoli-
tisch grundierte Hochbewertung des mittel-
alterlichen Erbes findet sich in Böhmen, wo
die Rekatholisierung des Landes nach dem
30-jährigen Krieg durch die Habsburger in
spezifischer Weise mit einer Anknüpfung
an die „national-böhmische“ mittelalterli-
che Tradition verbunden wurde, die ihren
frömmigkeitsgeschichtlichen Höhepunkt in
der weltweit erfolgreichen Propagierung
des Nepomukskultes fand. Im Unterschied
zu Frankreich bevorzugte man hier aber ei-
ne kreative Verschmelzung moderner und
mittelalterlicher Formen zu einer phanta-
sievollen „Barockgotik“.
Aus Frankreich und Böhmen könnte die
Vermutung abgeleitet werden, daß die
Wertschätzung mittelalterlicher Formen in
ursächlichem Zusammenhang mit der
Gegenreformation stehe: Die Gotik wäre
demnach als genuin katholischer Stil be-
trachtet worden, die positive Einstellung
katholischer Auftraggeber zum Mittelalter
sei vor allem ideologisch-programmatisch
begründet gewesen. Diese heute weit ver-
breitete These stützt sich auf die in Rom
nach dem Tridentinum vor allem von
Kunsttheoretikern und Theologen propa-
gierte Aufwertung der frühchristlichen Tra-
dition zum legitimierenden Erbe und Vor-
bild katholischer Selbstdarstellung. Als
Auslöser dieser Rückbesinnung kann der
durch den Abriß des Langhauses von St.
Peter um 1610 ausgelöste Schock gelten.
Zahlreiche Jesuitenkirchen, die nach 1600
in gotischem Stil errichtet wurden, scheinen
diese Deutung zu bestätigen.
Es konnte aber gezeigt werden, daß selbst
in Italien (ILA) die künstlerische Praxis spä-
testens seit dem Lateranumbau Borrominis
(ab 1650) kaum mehr von solchen Skrupeln
beherrscht wurde. Vielmehr setzten sich die
formalen Innovationen barocker Raumde-
koration, wie sie in den römischen Kirchen
der Reformorden entwickelt worden waren,
gegen die früheren asketischen und tradi-
tionalistischen Konzepte durch. Hierin ist
das entscheidende Vorbild für die „Italieni-
sche“ Renovatio und die spätbarocke Vor-
liebe für die durchgreifende Modernisie-
rung alter Kirchenräume zu sehen.
Der vieldiskutierte Streit um den „richtigen“
Weiterbau oberitalienischer gotischer Stadt-
kirchen erweist sich als ein primär kunst-
theoretischer Diskurs um den Anspruch auf
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partielle Umgestaltung beschränken, den
mittelalterlichen Raum aber nicht grundle-
gend verändern, sondern auf einen Kontrast
zwischen neuer Ausstattung und alter Ar-
chitektur abzielen.
In den habsburgischen Ländern findet man
besonders oft den „Historisierenden“ Modus
der Renovatio, bei dem mittelalterliche For-
men in die Neugestaltung einbezogen und
derart mit barocken Formen verschmolzen
sind, daß aus Alt und Neu eine untrennba-
re Einheit entsteht.
Als Extreme möglichen Umgangs mit alter
Bausubstanz sind außerdem solche Reno-
vierungen zu berücksichtigen, bei denen
entweder in konformer Stilangleichung die
mittelalterlichen Bauten unverändert fort-
geführt wurden oder der mittelalterliche
Charakter der Bausubstanz durch einen
Umbau so sehr verändert wurde, daß von
einem „Quasi-Neubau“ gesprochen werden
kann.
Die rücksichtsvolle Behandlung des mittel-
alterlichen Erbes in Frankreich (II.B) und
Böhmen (II.C) hatte nicht nur ästhetische,
sondern auch religionspolitische Gründe.
In Frankreich wurden die mittelalterlichen
Kirchen als nationales Erbe geschätzt; zu-
gleich erfuhr die Gotik eine ideologische
Aufladung als „königlicher“ und „katholi-
scher Stil“. Diese eindeutige politische und
konfessionelle Konnotation ist nur auf-
grund der aggressiven Ablehnung zu ver-
stehen, welche die Hugenotten eben diesem
Erbe entgegenbrachten. Zerstörung und
Wiederaufbau der Kathedrale von Orleans
kann hierfür als paradigmatisch verstanden
werden.
Die in den Schriften Abbe Laugiers ge-
machten Vorschläge zur Umgestaltung go-
tischer Kirchen sind ein wichtiges Zeugnis
für die vor allem auf konstruktive Qualitä-
ten ausgerichtete Gotikbegeisterung in
Frankreich, auch wenn seine Ideen kaum je
verwirklicht wurden.
Eine ähnlich emphatische, religionspoli-
tisch grundierte Hochbewertung des mittel-
alterlichen Erbes findet sich in Böhmen, wo
die Rekatholisierung des Landes nach dem
30-jährigen Krieg durch die Habsburger in
spezifischer Weise mit einer Anknüpfung
an die „national-böhmische“ mittelalterli-
che Tradition verbunden wurde, die ihren
frömmigkeitsgeschichtlichen Höhepunkt in
der weltweit erfolgreichen Propagierung
des Nepomukskultes fand. Im Unterschied
zu Frankreich bevorzugte man hier aber ei-
ne kreative Verschmelzung moderner und
mittelalterlicher Formen zu einer phanta-
sievollen „Barockgotik“.
Aus Frankreich und Böhmen könnte die
Vermutung abgeleitet werden, daß die
Wertschätzung mittelalterlicher Formen in
ursächlichem Zusammenhang mit der
Gegenreformation stehe: Die Gotik wäre
demnach als genuin katholischer Stil be-
trachtet worden, die positive Einstellung
katholischer Auftraggeber zum Mittelalter
sei vor allem ideologisch-programmatisch
begründet gewesen. Diese heute weit ver-
breitete These stützt sich auf die in Rom
nach dem Tridentinum vor allem von
Kunsttheoretikern und Theologen propa-
gierte Aufwertung der frühchristlichen Tra-
dition zum legitimierenden Erbe und Vor-
bild katholischer Selbstdarstellung. Als
Auslöser dieser Rückbesinnung kann der
durch den Abriß des Langhauses von St.
Peter um 1610 ausgelöste Schock gelten.
Zahlreiche Jesuitenkirchen, die nach 1600
in gotischem Stil errichtet wurden, scheinen
diese Deutung zu bestätigen.
Es konnte aber gezeigt werden, daß selbst
in Italien (ILA) die künstlerische Praxis spä-
testens seit dem Lateranumbau Borrominis
(ab 1650) kaum mehr von solchen Skrupeln
beherrscht wurde. Vielmehr setzten sich die
formalen Innovationen barocker Raumde-
koration, wie sie in den römischen Kirchen
der Reformorden entwickelt worden waren,
gegen die früheren asketischen und tradi-
tionalistischen Konzepte durch. Hierin ist
das entscheidende Vorbild für die „Italieni-
sche“ Renovatio und die spätbarocke Vor-
liebe für die durchgreifende Modernisie-
rung alter Kirchenräume zu sehen.
Der vieldiskutierte Streit um den „richtigen“
Weiterbau oberitalienischer gotischer Stadt-
kirchen erweist sich als ein primär kunst-
theoretischer Diskurs um den Anspruch auf
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