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Engelberg, Meinrad von
Renovatio Ecclesiae: die "Barockisierung" mittelalterlicher Kirchen — Petersberg: Imhof, 2005

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https://doi.org/10.11588/diglit.62514#0510
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VI. Kurzmonographien

Ein weiterer Grund liegt sicher in der ungeheu-
er mühsamen und lang ausgedehnten Erbau-
ungsgeschichte der spätgotischen Abteikirche,
einer imposanten dreischiffigen Basilika, die
noch heute das Stadtbild beherrscht und den
Dom sowie alle anderen Kirchen überragt.
Der 1467 begonnene Neubau in der für die ober-
deutsche Spätgotik ungewöhnlichen Form der
Basilika war zunächst in voller Übereinstimmung
und unter finanzieller Beteiligung des städti-
schen Patriziats entstanden: Er ersetzte offen-
sichtlich in Augsburg die ambitionierten Stadt-
kirchenprojekte, wie sie gleichzeitig in Ulm,
Landshut oder Nördlingen realisiert wurden -
deshalb begann man den Neubau wohl auch re-
gelwidrig mit dem für die Laien wichtigeren
Langhaus (Bischoff S. 196f, 204ff, 250ff). Viel-
leicht erschien der „altertümliche“ Querschnitt
hier als der vornehmere Bautypus - auch das bür-
gerliche Ulmer Münster entstand in dieser tradi-
tionell anspruchsvollsten Bauform - mit der man
sich sichtbar an den Dom des Kirchenpatrons Ul-
rich anlehnte (vergl. <338> die ungewöhnlich
hohe Lage der Fenster im Obergaden und die
Gesamtanlage mit ausladendem Querhaus und
Chorflankentürmen). Die Vorgängerkirche hatte
eine ganz andere, dem Doppelpatrozinium ent-
sprechende Form einer zweischiffigen Halle
<337>, die man beim Neubau bemerkenswerter-
weise aufgab (Haas, Bischoff S. 171-262, Meister-
lin / Wittwer). 1500 war das Langhaus vollendet,
und die gleichzeitige Grundsteinlegung des Cho-

Abb. 337: Augsburg, Benediktinerklosterkirche St.
Ulrich und Afra: Grundrisse des romanischen und
gotischen Baus (vor / nach 1474)


res durch Kaiser Maximilian, der als Gedenkmai
die Errichtung eines marmornen Reiterbildes vor
dem Kloster plante (Bischoff S. 253ff, Kat. Hi-
spania), kann als absoluter Höhepunkt der Klo-
stergeschichte gelten: Noch 100 Jahre später hielt
man die festliche Zeremonie in drei Gedenkbil-
dern fest, die zu den frühesten Zeugnissen der
ikonographischen Umsetzung lokaler Geschichte
im Kirchenraum zählen können (Dreher).
Die Bilder entstanden im Zusammenhang mit der
Erstausstattung des Chores, die erst 1612 abge-
schlossen werden konnte: Von 1526-67 hatten
die Arbeiten wegen der Reformationswirren ge-
ruht, zwischen 1536 und -48 war der Konvent
sogar ganz aus seinem Kloster vertrieben, die al-
te Ausstattung gründlich zerstört worden. Die
spätgotische Kirche war de facto ein erst 1607 ge-
weihter Neubau und somit jünger als St. Michael
in München: Ihn wieder abzutragen, wäre sicher
als frevelhaft und undankbar erschienen.
Der dritte Grund schließlich ist in den unbe-
zweifelbaren künstlerischen und räumlichen
Qualitäten der Ulrichskirche zu sehen, deren Grö-
ße, lichte Weite und Helligkeit so gar nichts mit
den engen und altmodischen romanischen Basi-
liken des Voralpenlandes (z.B. Rottenbuch0
(VI.40), Steingaden0 (VI.46), Plankstetten0 (VL31)
Seeon0 (VI.45) etc.) gemein hatte. Selbst ein Ita-
liener wie der Uditore Giacomo Fantuzzi rühm-
te sie 1652 als „[...] hohe prächtige Kirche von
ungewöhnlicher Länge mit herrlichen Altären
[...]“ (Rummel 1984, S. 29).
Abb. 338: Augsburg, Benediktinerklosterkirche St.
Ulrich und Afra: Grundriß


Der für viele Renovationes oder Neubauten ent-
scheidende Beweggrund, daß die alte Kirche nicht
mehr der Würde der Abtei, des Hauses Gottes und
der Andacht der Gläubigen entspräche, hatte für
diese Basilika keine Gültigkeit. Ottobeuren, das
sich erst einige Jahrzehnte nach der Augsburger
Abtei vom Augsburger Bischofloskaufte (1710),
feierte diesen neuen Status in seinem berühmten
Klosterneubau und riß dafür die erst 1558 ge-
weihte, wahrscheinlich nachgotische Abteikirche
ab: Der Neubau Fischers freilich blieb mit 89 m
Länge hinter den 93 m von St. Ulrich zurück -
diese wurden in Süddeutschland nur von den 102
m Weingartens (Braunfels S. 386) übertroffen.
Der Versuch, die eigene Abteikirche mit einiger-
maßen vertretbare Aufwand zu „überbieten“, er-
schien offensichtlich als ebenso sinnlos wie un-
nötig.
Um so interessanter erweisen sich die gezielten
Modifikationen des gotischen Baus, die mit Hil-
fe der Ausstattung vorgenommen wurden. Hier-
bei muß vor allem die Erstausstattung des Cho-
res unter Abt Merk gewürdigt werden, auch wenn
sie im strengen Sinne keine Renovatio ist. Aller-
dings steht sie wie kein anderes Beispiel für die
geglückte künstlerische Auseinandersetzung der
gegenreformatorischen Sakralkunst mit den Vor-
gaben eines gotischen Kirchenbaus.
Auch in St. Ulrich waren die ersten Versuche ei-
ner Rückbesinnung auf die Werte des „alten
Glaubens“ zögerlich und retrospektiv ausgefallen.
Das Bedürfnis nach einer Wiedergewinnung des
Status quo, einem demonstrativen „Zurück“ hin-
ter die Erschütterungen von Exil und Glaubens-
spaltung, fand in Augsburg Ausdruck in einer
dezidiert restaurativen Auftragsvergabe, deren
erklärtes Ziel die authentische Rekonstruktion
der im Bildersturm verlorenen Kunstwerke war
(Strecker 1997 u. 1998, Smith, Rasmussen in Kat.
Welt im Umbruch, Dussler): So wurde 1554 für
den Dom ein zerstörter Altar Holbeins durch
Amberger geradezu als Kopie wieder hergestellt.
Von ähnlichen Absichten getragen war offen-
sichtlich auch die Anfertigung des Marienaltars,
der heute in der an das nördliche Querhaus an-
schließenden, erhöhten „Schneckenkapelle“
steht <304f>. 1570 wurde das Retabel von Pau-
lus Mayr, dem Werkstattnachfolger Gregor Er-
harts geliefert (Kat. Welt im Umbruch II, S.
109ff, 160 Kat. Nr. 460). Ob er tatsächlich einen
im Bildersturm zerstörten Altar dieses Meisters
kopiert, kann nicht entschieden werden - das
Aussehen des Retabels legt diesen Schluß aber
nahe, denn der Aufbau unterscheidet sich in
nichts von einem vorreformatorischen Bildwerk.
Als Schreinaltar mit drei stehenden Heiligenfi-
guren übernimmt er genau jenen Typus des
„Götzenaltars“, der den Unmut der Bilderstür-
mer einst erregt hatte. Daß das Konzil von
Trient bereits vor acht Jahren seine Vorschrif-
ten zur Reform des inkriminierten Bildermiß-
brauchs erlassen hatte, sieht man dem Flügel-
altar mit Predella und Gesprenge in keiner
Weise an. Weder verfügt er über einen Taber-
nakel, noch verzichtet er auf die inzwischen ob-
solete Wandelfunktion. Allein der erschüttern-

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