D | Renovatio und Reformatio in Deutschland
diktiert Grenzen, es schließt bestimmte
Dinge aus - etwa die Stiftung privater Al-
täre oder Heiligenstatuen läßt aber an-
sonsten große Freiräume, die die Bewah-
rung des mittelalterlichen Raumbildes mit
kompletter Ausstattung ebenso zulassen
wie seine prachtvolle, durchgreifende Er-
neuerung. Das sicherste Zeugnis der „Kon-
fession“ eines Kirchenraums dürften funk-
tionale Unterschiede wie die Aufstellung
des Taufsteins vor dem Altar703, das Fehlen
von Seitenaltären oder isolierter Andachts-
und Heiligenbilder sein.
3. Die „Konfessionalisierung“
des Kirchenraums
1591706, bzw. der evangelischen Kirchen-
bautraktate von Furttenbach 1649 und
Sturm 1718707. Sie gehen jeder dekorativen
Veränderung voraus und sollen daher als
erste betrachtet werden708.
3 a) Vom Laienschiff zum
Predigtraum
„Denn das allervornehmste, was darinnen
geschieht ist das Predigen, bei deme allezeyt
eine große Menge des Volcks zusammen
kömmt, welche alle den Prediger nicht nur
deutlich hören, sondern auch sehen wollen
dazu denn ordentlich eingeteilte Sitze nötig
sind.“7W
Was ist das Gemeinsame aller Renovatio-
nes? Gibt es einen Grundkonsens, ein ver-
bindliches Ziel und einen Maßnahmenka-
talog, die von so allgemeiner Natur sind,
daß sie als konstituierend für alle Konfes-
sionen gelten können?
Grundsätzlich können drei verschiedene
prägende Faktoren jeder Renovatio unter-
schieden werden: Neben den sich wan-
delnden ästhetischen Idealen704 stehen
gleichberechtigt funktionale Erfordernisse
und äußere Rahmenbedingungen (z.B. fi-
nanzieller oder architektonisch-räumlicher
Natur).
Hier sollen zunächst jene Grundlagen der
Raumveränderung betrachtet werden, die
unmittelbar aus der Glaubensspaltung und
den dadurch gewandelten Nutzungskon-
zepten des Kirchenraums entstanden: seiner
„Konfessionalisierung“705.
Auslöser aller Neugestaltungen mittelalter-
licher Kirchen sind die Veränderungen des
Ritus infolge von evangelischer bzw. ka-
tholischer Reform (-ation). Sie führen zu-
nächst zu einer Erneuerung der funktiona-
len Ausstattung, sozusagen des liturgischen
Mobiliars. Diese Anpassung an neue bzw.
erneuerte Formen des Gottesdienstes sind
auch der eigentliche Kern der immer wie-
der diskutierten katholischen Theorie-
schriften zum nachtridentinischen Kir-
chenbau von Borromeo 1577 oder Müller
In evangelischen Kirchen beider Ausrich-
tungen (lutherisch oder reformiert) fand
durch die Neugewichtung von Predigt und
Abendmahl eine Umorientierung der Kir-
chenbesucher auf die Kanzel, eine Konzen-
tration auf das längere zuhörende Verwei-
len in der Kirche statt710. Hierfür mußten Ort
und Gestaltung der Kanzel nicht unbedingt
verändert werden, denn diese befand sich
bereits vor der Reformation meist in der
Abb. 121: Memmingen, ev. Stadtpfarrkirche St. Martin:
Reformierter Abendsmahlstisch (1531)
703 Luther fordert seine Aufstellung im Blick-
feld der Gemeinde. Siehe Scheiter 1981,
S. 15.
704 Vergl. Kap. IV.D zur Stilentwicklung der
Renovatio.
705 Der aus der historischen Forschung ent-
lehnte Begriff soll hier im wörtlichen Sin-
ne - Konfessionelle Differenzierung und
die daraus resultierenden Folgen - ver-
standen werden.
706 Siehe Hecht 1997, S. 19f; Horat 1980;
Mayer-Himmelheber 1984; Thümmel
1996; Hipp 1979 I, S. 418-425.
707 Siehe Hipp 1979 I, S. 487-508; Kruft
1991, S. 193-201; Scheiter 1981, S. 18ff,
27ff ; Wex 1984, S. 139-146; Schütte in
Kat. Architekt 1984, S. 172-183, weist
darauf hin, daß der Kirchenbau im Reich
und speziell der katholische praktisch oh-
ne eigene Theorie auskam: „Offensichtlich
hat sich im katholischen, wie im prote-
stantischen Bereich bis zum Ende des 'Ba-
rock' das primär durch mittelalterliche
Tradition geprägte Verständnis von kirch-
lichen Bauwerken nicht geändert." (ebd. S.
179)
708 Zur allgemeinen Auffassung der Prote-
stanten zum Kirchenbau siehe zu-
sammenfassend Hipp 1979 I, S. 480ff;
Raschzok 1987, S. 446-492.
709 Goldmann / Sturm 1718, hier zit. nach
Grashoff 1938, S. 10.
710 Zu Grundfragen der Organisation des
evangelischen Kirchenraums am Beispiel
der Regensburger Dreifaltigkeitskirche
siehe Möseneder 1983, S. 171-177,
182-186; Wex 1984, S. 74-91; Zum
evangelischen Kirchenbau siehe als Über-
blick Festschrift Poscharsky 1994.
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diktiert Grenzen, es schließt bestimmte
Dinge aus - etwa die Stiftung privater Al-
täre oder Heiligenstatuen läßt aber an-
sonsten große Freiräume, die die Bewah-
rung des mittelalterlichen Raumbildes mit
kompletter Ausstattung ebenso zulassen
wie seine prachtvolle, durchgreifende Er-
neuerung. Das sicherste Zeugnis der „Kon-
fession“ eines Kirchenraums dürften funk-
tionale Unterschiede wie die Aufstellung
des Taufsteins vor dem Altar703, das Fehlen
von Seitenaltären oder isolierter Andachts-
und Heiligenbilder sein.
3. Die „Konfessionalisierung“
des Kirchenraums
1591706, bzw. der evangelischen Kirchen-
bautraktate von Furttenbach 1649 und
Sturm 1718707. Sie gehen jeder dekorativen
Veränderung voraus und sollen daher als
erste betrachtet werden708.
3 a) Vom Laienschiff zum
Predigtraum
„Denn das allervornehmste, was darinnen
geschieht ist das Predigen, bei deme allezeyt
eine große Menge des Volcks zusammen
kömmt, welche alle den Prediger nicht nur
deutlich hören, sondern auch sehen wollen
dazu denn ordentlich eingeteilte Sitze nötig
sind.“7W
Was ist das Gemeinsame aller Renovatio-
nes? Gibt es einen Grundkonsens, ein ver-
bindliches Ziel und einen Maßnahmenka-
talog, die von so allgemeiner Natur sind,
daß sie als konstituierend für alle Konfes-
sionen gelten können?
Grundsätzlich können drei verschiedene
prägende Faktoren jeder Renovatio unter-
schieden werden: Neben den sich wan-
delnden ästhetischen Idealen704 stehen
gleichberechtigt funktionale Erfordernisse
und äußere Rahmenbedingungen (z.B. fi-
nanzieller oder architektonisch-räumlicher
Natur).
Hier sollen zunächst jene Grundlagen der
Raumveränderung betrachtet werden, die
unmittelbar aus der Glaubensspaltung und
den dadurch gewandelten Nutzungskon-
zepten des Kirchenraums entstanden: seiner
„Konfessionalisierung“705.
Auslöser aller Neugestaltungen mittelalter-
licher Kirchen sind die Veränderungen des
Ritus infolge von evangelischer bzw. ka-
tholischer Reform (-ation). Sie führen zu-
nächst zu einer Erneuerung der funktiona-
len Ausstattung, sozusagen des liturgischen
Mobiliars. Diese Anpassung an neue bzw.
erneuerte Formen des Gottesdienstes sind
auch der eigentliche Kern der immer wie-
der diskutierten katholischen Theorie-
schriften zum nachtridentinischen Kir-
chenbau von Borromeo 1577 oder Müller
In evangelischen Kirchen beider Ausrich-
tungen (lutherisch oder reformiert) fand
durch die Neugewichtung von Predigt und
Abendmahl eine Umorientierung der Kir-
chenbesucher auf die Kanzel, eine Konzen-
tration auf das längere zuhörende Verwei-
len in der Kirche statt710. Hierfür mußten Ort
und Gestaltung der Kanzel nicht unbedingt
verändert werden, denn diese befand sich
bereits vor der Reformation meist in der
Abb. 121: Memmingen, ev. Stadtpfarrkirche St. Martin:
Reformierter Abendsmahlstisch (1531)
703 Luther fordert seine Aufstellung im Blick-
feld der Gemeinde. Siehe Scheiter 1981,
S. 15.
704 Vergl. Kap. IV.D zur Stilentwicklung der
Renovatio.
705 Der aus der historischen Forschung ent-
lehnte Begriff soll hier im wörtlichen Sin-
ne - Konfessionelle Differenzierung und
die daraus resultierenden Folgen - ver-
standen werden.
706 Siehe Hecht 1997, S. 19f; Horat 1980;
Mayer-Himmelheber 1984; Thümmel
1996; Hipp 1979 I, S. 418-425.
707 Siehe Hipp 1979 I, S. 487-508; Kruft
1991, S. 193-201; Scheiter 1981, S. 18ff,
27ff ; Wex 1984, S. 139-146; Schütte in
Kat. Architekt 1984, S. 172-183, weist
darauf hin, daß der Kirchenbau im Reich
und speziell der katholische praktisch oh-
ne eigene Theorie auskam: „Offensichtlich
hat sich im katholischen, wie im prote-
stantischen Bereich bis zum Ende des 'Ba-
rock' das primär durch mittelalterliche
Tradition geprägte Verständnis von kirch-
lichen Bauwerken nicht geändert." (ebd. S.
179)
708 Zur allgemeinen Auffassung der Prote-
stanten zum Kirchenbau siehe zu-
sammenfassend Hipp 1979 I, S. 480ff;
Raschzok 1987, S. 446-492.
709 Goldmann / Sturm 1718, hier zit. nach
Grashoff 1938, S. 10.
710 Zu Grundfragen der Organisation des
evangelischen Kirchenraums am Beispiel
der Regensburger Dreifaltigkeitskirche
siehe Möseneder 1983, S. 171-177,
182-186; Wex 1984, S. 74-91; Zum
evangelischen Kirchenbau siehe als Über-
blick Festschrift Poscharsky 1994.
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