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Die Hauptkirche Beatae Mariae Virginis in Wolfenbüttel — Forschungen der Denkmalpflege in Niedersachsen, Band 4: Hameln: Verlag C.W. Niemeyer, 1987

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HÄRMEN THIES


31 Maßwerkfüllung eines Lanzett-Rahmen-Fensters
der Halle.

nächst in Einheit mit dem Aufbau der dreischiffig-
23 fünfjochigen Halle zu sehen. Hier haben sie ihren
31 „angestammten“ Ort, für den sie entworfen er-
17 scheinen. Der Wandkörper der Halle wird in den
Achsen der Schiffe und Joche durch je ein großes
Lanzettfenster geöffnet, das konstitutiv in den
Aufbau ihrer Wandungen gehört. So zählt man
zwölf Riesenfenster, die zunächst alle — mit
nahezu identischer Bildung und Binnenteilung —
auf dieselbe Weise dem Wandkörper der Halle ein-
gebunden sind. Nur in den Portalachsen der Lang-
seiten werden sie zu Gliedeinheiten eigenartiger
Kombinationsgebilde: Dort erscheinen sie als
überhohe Supraporten der beiden geduckt-fein-
gliedrigen Portalarchitekturen, mit denen sie die
zentralen, von hohen Pfeilern gerahmten, von Flü-
geljochen begleiteten und in den mittleren Zwerch-
giebeln gipfelnden Achsfiguren der Nord- und
Südfront bilden.
Die Fenster sind dem Wandkörper nicht einfach
eingeschnitten, sondern spannen sich als mächtige,
hochrechteckige Steinrahmen stützend zwischen
die hohe Sockelbank und das Haupt- und Ab-
schlußgebälk des Wandkörpers. Sie sind so hoch
wie die Quaderwand selbst und bilden im Wechsel
mit den rechts und links anschließenden Quader-
werksscheiben das im Zuge der Sockelbank und
des Hauptgebälkes vor allem realisierte Konti-
nuum der Hallenwände. Die Grenze zwischen
Fensterrahmen und Wandgliedern ist scharf, ge-
radlinig und rechtwinklig gezogen; sie zeigt in aller
Deutlichkeit, daß diese Fenster als wandunabhän-
gige Elemente vorzufertigen und „im ganzen“ dem
Wandaufbau einzupassen waren. So können sie die
Formenwelt der in ihnen selbst zur Ausbildung ge-
brachten, stab- und maßwerkgefüllten Lanzettöff-
nungen nicht — wie die Giebel etwa — nach außen,
gleichsam sprühend und aus der Kontur heraus-
züngelnd entfalten, sondern müssen allen Reich-

tum individualisierender Formen innerhalb dieser
Umgrenzung zur Ausbildung bringen.
Grundform und Binnenteilung erinnern an goti-
sche Maßwerkfenster. Die Einzelheiten zeigen je-
doch, daß das offensichtlich bewußt aufgegriffene
„System“ einer gotischen Fensterkonstruktion in
der konkreten Bildung dieser, Stütz- und Wand-
rahmen mit Maßwerkfenstern kombinierenden,
„Öffnungs-Elemente“ nahezu getilgt ist. Während
die schlanken Proportionen, das Stab- und Maß-
werk sowie Einzelformen (schräges Gewände,
Sohlbank, achtseitige Stabsockel, krabbenähnliche
Maßwerkblätter) zunächst durchaus „gotisch“ an-
muten, überwiegt am Ende die dementierende, aus
Einzelstücken das Ganze eher kombinierende als
fügend figurierende Vorgehensweise einer ihre
Aufbauelemente bedacht „verteilenden“ Renais-
sance. Auffallend sind vor allem die regelmäßig, auf
überall gleicher Höhe eingeschalteten und damit —
in Parallele zu allen anderen Gurtungen — „Hori-
zonte“ markierenden Relief-Quader, die ebenso
den ungehindert „gotischen“ Anstieg der Rahmen
und Maßwerkstäbe im Gleichtakt ihrer Verblok-
kungen brechen wie sie die Rahmenpfosten in eine
Addition kleiner, aufrecht eingestellter Steintafeln
und dazwischengeschalteter Reliefblöcke zerlegen.
Das Zersprengen in viele Einzelformen und ein
merkwürdig heftiges, in abrupten, raschen Kon-
trastbildungen fast „kurzschlüssiges“ Versammeln
einer Vielzahl heterogener Sonderstücke charakte-
risiert den Aufbau dieser Fenster.
Zwar erscheinen ihre Gewände in eine Folge von
Reliefquadern und Steintafeln zerlegt, doch zeigt
sich auch, daß sie Basen und Kapitelle haben und so
nach Art der toscanischen — in diesem Fall mit Ru-
stz'cÄ-Quadern „durchschossenen“ — Ordnung ge-
bildet sind. Und während die Relief-Quader den
aufstrebend-übergreifenden Zug „gotischer“ Form
immer wieder zerstücken, sind gerade sie es, die die
senkrechten und spitzbogigen Gewändeanteile als
eine Bahn zu erkennen geben. Sie haben die streng
rechtwinklige Rahmenform des Ganzen mit der
spitzbogigen Stab- und Maßwerkfüllung zu ver-
schränken. Oberhalb der Kapitellzone werden die
Relief-Quader gleichzeitig zu keilförmigen Bogen-
steinen und rechtwinkligen Rahmenblöcken. In
der Achse der Rahmenpfosten sind ihnen Schild-
konsolen aufgeschichtet, die gemeinsam mit den
zugehörigen, toscanisch wirkenden Triglyphen-
tafeln Kapitellkonsolen bilden, die knapp unter-
halb des Gebälkfrieses noch einmal zu tun behaup-
ten, was die Lanzettrahmen im Großen schon ge-
leistet hatten: das lastende Hauptgebälk oberhalb
der Fenster zu tragen: Zerlegungen und Zerstük-
kungen sind fast ohne Vermittlung, übergangslos
und auf engstem Raum, mit einenden Verschrän-
kungen kombiniert, so daß das ganze nahezu „ver-
knotet“ erscheint.

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