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Görling, Adolph; Woltmann, Alfred [Oth.]; Meyer, Bruno [Oth.]
Deutschlands Kunstschätze: eine Sammlung der hervorragendsten Bilder der Berliner, Dresdner, Münchner, Wiener, Casseler und Braunschweiger Galerien : eine Reihe von Porträts der bedeutendsten Meister (Band 2) — Leipzig: Verlag von A.H. Payne, 1872

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https://doi.org/10.11588/diglit.62335#0275
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Michelangelo. 41
Knabe steht zwischen den Knieen der Matter, noch von ihrem linken Arm umfangen, der ihn —
scheint es — hat hinabgleiten lassen; ihre Rechte ruht, ein Buch haltend, im Schooße. Das treff-
lich componirte und liebevoll ausgesührte Werk ist unbedingt eins der ansprechendsten, im einfachen
Sinne schönsten des Meisters.
Um dieselbe Zeit malte er die heilige Familie in der Tribune der Uffizien zu
Florenz, das einzige sicher beglaubigte Tafelbild von seiner Hand, für Agnolo Dossi, den
später voll Raphael gemalten Florentiner Kunstfreund. Die Compofition hat manches Widerstre-
bende; man sieht, wie die überquellende Kraft des Genius sich auf Kosten des Gegenstandes eigen-
mächtig Hervordrängt. Schon die Hauptgruppe selbst hat etwas Gezwungenes. Maria, in unruhiger
Stellung am Boden knieend, sucht das Kind zu fassen, das der heilige Joseph ihr über die Schulter
reicht. Der Hintergrund ist mit kleinen nackten menschlichen Gestalten belebt, die zu der Dar-
stellung gar kein Verhältniß haben: nur der ungestüme Schöpfungsdrang des Meisters und
seine Lust an den Wundern der unverhüllten menschlichen Leibesschönheit ließ dieses Beiwerk
entstehen. Das Bild ist in seinem, kühlem Tone mit außerordentlicher Sorgfalt in Tem-
pera gemalt.
Doch die Malerei lag ihm nicht am Herzen. Sobald er als Bildhauer Beschäftigung fand,
ließ er sie hinter sich. Jetzt fand sich eine Gelegenheit, seine Kunstgewandtheit im glänzendsten
Lichte spielen zu lassen. Im Hose der Werkstätte für die Dombauarbeiten lag seit langen Jahren
ein neun Ellen hoher Marmorblock, ursprünglich zu einer Prophetengestalt an der Kuppel von
S. Maria del Fiore bestimmt, aber nur roh behauen, angebohrt und also, nachdem die ehemalige Be-
stimmung aufgegeben war, scheinbar ganz werthlos. Vergebens hatte man dem Donatello den Stein an-
geboten; er wußte nichts damit zu machen. Auch Andrea Contucci del Monte Sansovino (si 1529),
der damals wohl berufene Lehrer des Jacopo Sansovino, hatte zwar die Bearbeitung des Blockes
übernehmen wollen, jedoch nur unter der Bedingung, einige Marmorstücke anfügen zu dürfen.
Michelangelo besah den Block und erbot sich, ohne jede Flickarbeit etwas aus demselben zu machen.
Das gefiel. Am 16. August 1501 kam der Contract zu Stande: zwei Jahre vom 1. September
ab sollte die Arbeit dauern; sechs schwere Goldgulden sollte er während der Arbeit monatlich Ge-
halt bekommen. Was dann noch weiter zu zahlen sei, behielten die Auftraggeber ihrem Ermessen
vor. Ohne weitere Vorbereitung als ein kleines Wachsmodell, das noch in den Uffizien vorhanden
ist, hieb er am 13. September den Stein an und meißelte im Vertrauen auf sein gutes Auge und
seine sichere Hand so emsig daraus los, daß er Ende Februar 1503 die baldige Beendigung seiner
Arbeit anmelden konnte. Da erst wurde der Gesammtpreis auf vierhundert Goldgulden normirt.
So schuf er den kolossalen Hirtenjüngling, den David mit der Schleuder, der noch jetzt am
Thore des Palazzo Vecchio in Florenz Wache hält. Straff aufragend steht er da, den Blick scharf nach
links gewendet. Die zur Brust emporgehobene Linke hat die Schleuder über die Schulter geworfen,
die Rechte, lang herabhängend, saßt einen Stein. Eine ungeheure Schnellkraft scheint in den giganti-
schen Gliedern verborgen zu sein. Angesichts der schwierigen Bedingungen muß man über die
großartige und vollkommene Lösung der Aufgabe staunen. Der Stein ist so vollständig ausgenutzt,
daß oben auf dem Kopf sich noch eine kleine unbehauene Stelle, das rohe Ende des Blockes, be-
findet. Am 18. Mai 1504 wurde der Koloß nach einem beschwerlichen, vier Tage dauernden
Transport ausgestellt.

Deutschlands Kunstschätze. H.

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