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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 3.1914

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Sachs, Hanns: Homers jüngster Enkel
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https://doi.org/10.11588/diglit.42096#0090

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Hanns Sachs

Homers jüngster Enkel.
Von HANNS SACHS <Wien>.
Unsere Zeit verarmt durch ihren Reichtum. Damit das innige
und reine Gefühl für irgendein Stüde Außenwelt in uns aufblühe,
müßten wir uns ihm mit allen unseren Sinnen zu eigen geben, und
wie wäre das möglich, da stündlich neue Gegenstände auf uns ein-
stürmen, die unser Interesse an sich reißen wollen und uns am
Mantel zerren wie die zudringlichen Bettlergedanken den Zeus am
Weltenturm? Ehemals blieb die Alltagsumgebung eines Menschen,
solange er lebte die gleiche, so daß sie mit allen Fasern seines Wesens
verwuchs,- das Ungewohnte, das in sein Dasein trat, gewann durch
seine Neuheit lebhafte Farbe, die auch in der Erinnerung nicht
verblaßte. Der Durchschnittsbildungsmensch von heute hat, ehe seine
Reifejahre erreicht sind, einen kaum mehr erschleppbaren Erinne-
rungsbündel von Landschaften und Städtebildern, Kunstwerken und
Naturwundern gesammelt,- jeder Ferientag trägt neue hinzu und
auch die Heimat ändert ihr Antliz von Jahr zu Jahr. Wenn er die
Tagesneuigkeiten in seiner Zeitung überfliegt, ein paar illustrierte
Journale durchblättert oder gar in ein Kino geht, hat er in einer
Stunde mehr interessante Gegenstände gesehen, seiner Phantasie —
das Wort im weitesten Sinne — mehr Nahrung gereicht, als etwa
dem Dichter des cherubinischen Wandersmannes während der langen
Jahre gegönnt war, die er am Hofe des Herzogs Nimrod zu Ols
verlebte. Wenn dem Angelus Silesius und den besten Geistern
seines Jahrhunderts die Welt hinter einem Nebel von Mystik
entschwand, weil sie in ihrer Einförmigkeit, Öde und Nüchternheit
allzu unerträglich war, so entgleitet sie unseren Sinnen, weil sie zu
bunt und überquellend für unsere Fassungskraft geworden ist.
Dazu kommt, daß die Fähigkeit, die Naturerscheinungen klar und
sachlich zu betrachten, heute nicht mehr in so innigem Zusammen^
hange mit der wissenschaftlichen Forschung steht, wie noch für Goethe
und seine Zeitgenossen, Das schärfste Auge kann das Mikroskop
und das Reagensglas nicht ersetzen, es kann nur, selbständiger
Beobachtung entsagend, in ihren Dienst treten. Die exakte Natur-
forschung hat uns unendlich gefördert, aber die Dinge, die sie uns
zeigt, sind nicht dieselben, die wir mit unseren Alltagsaugen er-
blichen.
Diese Wandlung der Zeiten findet ihren stärksten Ausdruck
in der Kunst und ihrer Entwicklungsrichtung. Wir erwarten von
dem Dichter nicht die Vermittlung eines Weltbild=Bruchstückes, son-
dern daß er uns möglichst unmittelbar und umweglos zu einem
Blidc in die Tiefen seiner Persönlichkeit verhelfe. Einst war seine
Aufgabe anders: Er war dazu bestimmt, die Pforten der Welt vor
seinen Hörern aufzureißen, Menschen und Dinge vor sie hinzu-
stellen,- nur von ferne ließ sich der Schöpferhauch ahnen, aus dem
 
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