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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 3.1914

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Abraham, Karl: Über neurotische Exogamie: ein Beitrag zu den Übereinstimmungen im Seelenleben der Neurotiker und der Wilden
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https://doi.org/10.11588/diglit.42096#0511

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Über neurotische Exogamie

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Über neurotische Exogamie.
Ein Beitrag zu den Übereinstimmungen im Seelenleben der Neu-
rotiker und der Wilden.
Von Dr. KARL ABRAHAM.
Während man früher der Ehe unter Blutsverwandten nur
insoweit ein Interesse entgegenbrachte, als man in ihr ein
hereditär belastendes Moment erblickte, habe ich in einem
Aufsatz1 darauf hingewiesen, daß die Verwandtenehe selbst als
Phänomen der Neurosen-Psychologie gewürdigt werden müsse. Aus-
gehend von den Eigentümlichkeiten der Sexualität bei den Neuro-
tikern, welche uns durch die Psychoanalyse bekannt geworden sind,
gelangte ich zu der Auffassung, daß bei vielen solchen Personen die
Übertragung der Libido auf blutsfremde Personen mißlinge, weil
sie auch nach der Pubertät in inzestuöser Gebundenheit verharre.
Für den Neurotiker, der sich dem Objekt seiner ursprünglichen
inzestuösen Wünsche ebenso fern halten muß wie dem blutsfremden
Weibe, bedeutet die Ehe mit einer Verwandten ein Kompromiß.
Schon in der erwähnten Schrift machte ich darauf aufmerksam,
daß man die Neigung zur Inzucht in eine Reihe mit gewissen an-
deren Erscheinungen stellen müsse, um ihr psychologisch gerecht
zu werden. An dem einen Ende dieser Reihe hat der reale Inzest
seinen Platz,-er ist in psychopathischen Familien nicht gar so selten, wie
man anzunehmen pflegt. Das entgegengesetzte Extrem ist die völlige
und dauernde Ablehnung aller Beziehungen zum andern Geschlecht.
Dem erstgenannten Extrem steht psychologisch nahe die Nei-
gung zu solchen blutsverwandten Personen, welche nicht dem aller-
nächsten Verwandtschaftsgrade angehören. In einem ganz ähnlichen
Verhältnis zu dem oben genannten andern Extrem der Reihe steht
eine Erscheinung, welche ich mit dem Namen »neurotische Exo-
gamie« belegen möchte. Sie besteht darin, daß der Mann2) eine un-
überwindliche Scheu empfindet, in nahe Beziehungen zu einem Weibe
zu treten, das der gleichen Rasse oder Nationalität angehört wie
er selbst, oder — richtiger gesagt — wie seine Mutter. Hier werden
also gegen die Möglichkeit des Inzestes ganz besondere Maßregeln
getroffen. Der Neurotiker flieht vor dem mütterlichen Typus zu
solchen Frauen, welche in Erscheinung und Wesen der Mutter
<oder Schwester) möglichst entgegengesetzt sind. Diese Flucht ist eine
Folge seiner übermäßigen Inzestscheu.
Ein Beispiel möge zunächst den geschilderten Sachverhalt er-
läutern:

1 »Die Stellung der Verwandtenehe in der Psychologie der Neurosen.« Jahrb.
f. psychoanalyt. Forschungen, Bd. I. 1909.
2 Wie in der zitierten früheren Arbeit berücksichtige ich auch hier wieder
in erster Linie die Erscheinungen, wie sie sich beim männlichen Geschlecht äußern,-
die Begründung dafür habe ich am erwähnten Ort gegeben.

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