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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 3.1914

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III.5
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Hug-Hellmuth, Hermine von: Vom wahren Wesen der Kinderseele, [5]
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462

Dr. H. v. Hug^Helfmuth

Vom wahren Wesen der Kinderseele.
Redigiert von Dr. H. v. HUG=HELLMUTH,
Kinderbriefe.
Mitgeteilt von Dr. H, v. Hug = Helimuth.
Die starke Abneigung so vieler Erwachsener gegen das Briefschreiben
ist in allen Gesellschaftsschichten so weit verbreitet, daß wir mit gutem
Rechte nach allgemein giltigen tieferen Ursachen forschen dürfen, für welche die
Überlastung des Mannes im Berufsleben, der Zeitmangel der Frau infolge
häuslicher, gesellschaftlicher oder beruflicher Pflichten bloß bequeme Deck-
mäntel sind. Der Widerwille, der mit einem Male schwindet, wenn sich die
Erotik zum Worte meldet, der mächtig anschwillt, sobald die Liebe im
weitesten Sinne des Wortes schweigt, wurzelt tief in der Seele der meisten.
Seine Motive liegen weit zurück, in der Kindheit, in jenen Jahren, da über-
haupt Vorliebe und Abneigung, die später das Leben in fast unerklärlicher
Weise beherrschen, als oft kaum merkliche Reaktion auf die Erziehung und
das Milieu sich entwickeln.
Bis in die Schulzeit zurück läßt sich die Abneigung gegen das Briefe
schreiben verfolgen. Keine Unterrichtsstunde ist dem Kinde auf frühen und
späteren Lernstufen so unerquicklich und ehrlich verhaßt als die Aufsatz^
stunde, in der sich der Lehrer — in der Regel mit wenig Erfolg ~
bemüht, den kindlichen Geist mit dem Geheimnis des Stils in Wunsch^,
Dank=, Erkundigungs- und anderen Briefen bekannt zu machen, in denen
der Schüler die Eindrücke einer wirklich erlebten oder gar fingierten Reise
einem Freunde nach einem vorgegebenen Plane mitteilen soll, Briefe, in
denen er nichts vom Essen und Trinken, das ihm vielleicht um der unge-
wohnten Genüsse willen das Köstlichste schien, von Mitreisenden, über die
er sich etwa gar lächerlich gemacht, erwähnen darf, indes er getreulich Dinge be-
richten soll, die sein Inneres kalt lassen. Das Kind fühlt das Erzwungene eines
solchen Briefes und schlürft in solchen Stunden die widerwärtige, nicht immer
heilsame Arznei des bitteren Muß vielleicht deshalb unter stärkerem Mißbe-
hagen als bei anderen Gelegenheiten der notwendigen Einordnung in das
SchuL und Lerngetriebe, weil ihm gerade der »Brief« ein Privilegium auf
freie Meinungsäußerungen zu sichern scheint. Bis das Kind die ersten von
der Pflicht auferlegten Briefe mühsam und freudlos zusammenschweißt,
hat es in der Regel längst den nervenaufregenden Kitzel genossen, der aus
dem heimlichen Schreiben jener kleinen Zettelchen stammt, die der erwach^
sene Wiener noch in wohllüstig^ gruselnder Erinnerung an seine Schulzeit
kurzweg »Brieferin« nennt, jener Zettelchen, die er unter der Schulbank in
steter Angst, erwischt zu werden, geschrieben, und die in ihrem Inhalte
von der rührendsten Harmlosigkeit bis zu verbotener Begierde und Lüstern-
heit gehen. Und weil Eltern und Erzieher rückschauend in ihre eigene
Kindheit sich recht gut des mitunter recht anstößigen Inhalts solcher Brief-
lein entsinnen, üben sie häufig auch an jenen Briefen ihre strenge Zensur,
welche die Kinder daheim aus freien Stücken an abwesende Altersgenossen
schreiben. Die Gepflogenheit, daß in vielen Familien die Korrespondenz der
heranwachsenden Kinder mit Freunden von Vater oder Mutter überwacht
und beargwöhnt wird, läßt die jungen Menschen freundschaftliche Beziehung
gen in der Ferne bald abbrechen. Noch mehr als für das gesprochene Wort
verlangt das Kind für das geschriebene — sei es von seiner Hand oder an
seine Person gerichtet — volle Freiheit hinsichtlich des Inhalts wie der Zeit.
 
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