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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 3.1914

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III.1
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Eitingon, Max; Hug-Hellmuth, Hermine von; Reik, Theodor: Vom wahren Wesen der Kinderseele, [4]
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https://doi.org/10.11588/diglit.42096#0095

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Vom wahren Wesen der Kinderseele

85

Vom wahren Wesen der Kinderseele.
Redigiert von Dr. H. v, HUG«HELLMUTH.
I.
Lou Andreas^Salome. Im Zwischenland.
Fünf Geschichten aus dem Seelenleben halbwüchsiger Mädchen1.
Wenn es wahr ist, daß die Frau das Wesen des Kindes tiefer, inniger
erfaßt als der Mann, so gilt dies doppelt von der Dichterin. Denn sie hat
vor ihren Mitschwestern die Gabe voraus, das, was sie in fremder Seele
erschaut, mit dem zu vereinen, was Erinnerung und Phantasie ihr aus der
eigenen Kindheit bewahrten. Mit entzückender Feinheit schildert Lou An«
dreas«Salome in den fünf Geschichten aus dem Seelenleben halbwüchsiger
Mädchen das Ringen und Werden dieser »gewesenen Kinder«. Nur eine
Frau von hoher dichterischer Begabung und einem jungen, jungen Fierzen
kann so liebliche Gestalten vor uns zaubern, wie die kleine Musja mit ihrer
rührenden Begeisterung für das Dichter«Idol ihres Bruders, die schlanke Lisa,
die dem Vetter mit dem »schrecklichen Ruf« ein Schutzengel, ein Anwalt
gegen die böse Welt sein will, Ria, »Vaters Kind«, und die armen heimat«
losen Schwestern Dascha und Mascha und endlich Ljubow, die Sechzehn«
jährige, »deren große, schöne, weiche Gestalt verkündete: ,Ich bin eine aus«
gewachsene Person, eine Dame bin ich V, indes das runde Kindergesicht dem
lebhaft widersprach,« Ljubow, die vom Leser scheidet in erwartungsseligem
Liebesbangen.
Unter den vielen Problemen, welche die Autorin in den fünf No«
veilen berührt, lockt uns vor allem eines, der Familienkomplex. Die
dunkle Macht, der wir alle unterworfen sind und die wir gemeinhin
»Schicksal« zu nennen pflegen, erweist sich bei psychoanalytischer Betrach«
tungsweise im Grund als die Summe der Einflüsse unseres Heims von
frühen Kindertagen an,- sie bestimmen unsere Entwicklung, unsere Fehler
und Vorzüge, sie zeichnen uns den Weg vor, auf dem wir Liebe und Glück
suchen.
Was die moderne Seelentiefenforschung mit nüchternem Verstand
enthüllt, das wertet die Dichterin mit dem Gefühle2, den Familienkomplex
in seinen segensreichen und seinen tragischen Wirkungen. Neben ihm und
mit ihm eng verschlungen geht die Kindersehnsucht, groß zu sein wie
Vater und Mutter, oder doch wenigstens so groß wie die beneideten älteren
Geschwister. Diese Sehnsucht, die das kleine Kind schon erfüllt und in
seinen Spielen einen beredten Ausdruck findet, wächst und schwillt in den
Jahren beginnender Reife ins Riesenhafte, sie treibt die junge Menschen«
knospe, ehe ihre Zeit gekommen, sich zu entfalten. Daß die halbwüchsigen
Mädchen unter diesem Drängen und Sehnen unendlich mehr leiden als die
Knaben, erklärt sich aus den engeren Schranken, die die »gute Sitte« dem weib«
1 Stuttgart und Berlin 1911, J. G. Cottasche Buchhandlung Nachfolger.
2 Auf eine Anfrage hatte Frau Lou Andreas«Salome die Liebenswürdig«
keit, mir brieflich mitzuteilen, daß die letzte der fünf Novellen »Wolga« aus dem
Jahre 1901, die vier anderen aus noch früheren Jahren stammen, aus einer Zeit,
da sie mit den Freudschen Lehren noch nicht bekannt geworden. Diese habe sie
erst 1911 kennen gelernt,
 
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