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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 3.1914

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III.6
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Silberer, Herbert: Das Zerstückelungsmotiv im Mythos
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https://doi.org/10.11588/diglit.42096#0514

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502

Herbert Silberer

Das Zerstückelungsmotiv im Mythos.
Von HERBERT SILBERER.
Die große Mehrzahl der Mythen erzählt Begebenheiten, die
auf der Erde, nicht am oder im Himmel spielen. Wenn
auch ohne Frage zuzugeben ist, daß ihrer viele zu irgend
einer Zeit auf Himmelsvorgänge bezogen wurden, so ist doch alles,
was hierüber ausgesagt werden kann, im ganzen nicht so handgreiflich
sicher, wie daß alle Mythen ohne Ausnahme durch das Medium
der menschlichen Psyche gegangen, eigentlich ihrem Schoß entsprossen
sind, und daß so die menschlichen Neigungen, Strebungen, Befürcht
tungen, Konflikte auf die Mytheninhalte übergehen mußten, und
zwar nicht bloß im oberflächlichen, sondern auch im Sinne der
Tiefenpsychologie. Die psychologische Abhängigkeit des Mythos gilt
sowohl dort, wo astrale <oder sonstige auf bestimmte Naturschnitte
beschränkte) Deutungen zulässig, als wo sie unzulässig sind,- und
so kommt es, daß die psychologische Betrachtung der Mythen weit
umfassender und — gewissermaßen als Entschädigung für ihre mit^
unter gefährliche Dehnbarkeit — in gewisser Hinsicht besser fundiert
ist als ihre Deutung auf einzelne äußere Naturvorgänge L
Es bedarf also vielleicht keiner weiteren Entschuldigung, wenn
ich in den folgenden Ausführungen über das Zerstückelungsmotiv
seine, unzweifelhaft vorhandenen, Beziehungen zum Himmel <Mond^
Zerstückelung etc.) vernachlässige. Nur psychologischer Bedeutungen
soll hier gedacht werden, und zwar bloß einiger weniger, noch dazu
in fast gesprächsweis zwangloser Aneinanderreihung: eine strengere
und weiter ausgreifende Behandlung des Gegenstandes sei für eine
andere Gelegenheit Vorbehalten.
Wohl mit allen anderen mythologischen Motiven teilt das
Zerstückelungsmotiv die Eigenschaft, mehreren psychologischen Zu-
sammenhängen anzugehören, sei es, daß es sich im einzelnen Fall
überdeterminiert zeige, sei es, daß es sich in verschiedenen Fällen
auch verschieden angewendet finde. Otto Rank, der sich von einer
bestimmten Seite her mit dem Zerstückelungsmotiv psychologisch
befaßt hat1 2, erblickt darin teils die Entmannung des Vaters durch
den Sohn <Typus Uranos, Kronos) oder des Sohnes durch den
Vater <als Inzeststrafe), teils eine Umkehrung der infantilen Vor-
stellung von der Zusammensetzung des Menschen aus Stücken
<so daß Wiederbelebung des Zerstückelten = Geburt), teils auch
das Schlaffwerden des Phallos <so daß Wiederbelebung = Erektion).

1 Wilhelm Wundt, Völkerpsychologie II. Bd., 1. Teil <1. Auff, Leipzig
1905), p. 528 ff„ 578 ff. und 3. Teil <1, Aull., Leipzig 1909), p. 52ff, 62, 81 ff,
87, 173, 216, 231, 238, 526 u. a.,- Dr. Otto Rank, Das InzestTMotiv in Dich-
tung und Sage <Wien 1912), p. 277 ff., 318 f,- Herbert Silberer, Probleme der
Mystik und ihrer Symbolik <Wien 1914), p, 204 ff
2 Dr. Otto Rank, a. a. O., IX. 4.
 
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