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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 3.1914

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III.4
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Brill, Abraham A.: Die Psychopathologie der neuen Tänze
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https://doi.org/10.11588/diglit.42096#0413

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Die Psychopathologie der neuen Tänze

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Die Psychopathologie der neuen Tänze.
Von Dr. A. A, BRILL, New-York
Chef der psychiatrischen Klinik und klinischer Assistent am neurologischen Institut
der Columbia Universität1,
Da die augenblicklich herrschende Tanzmanie von Individuum
auf Individuum übertragen worden ist und sich immer mehr
ausbreitet, sind wir berechtigt, von einer psychischen Epidemie
zu sprechen. Solche psychische Epidemien sind wohlbekannte Vor-
kommnisse und treten häufig im Lauf der Geschichte auf. Für den
Psychiater bedürfen sie keiner weiteren Erklärung. Wir haben alle
Fälle von Folie ä deux beobachtet und können daher leicht verstehen,
wie solche psychische Vorgänge von einem Individuum auf das
andere übertragen werden können, bis ein Ort, bis ein ganzes Land
davon ergriffen ist.
Man denke z. B. an die verschiedenen Kreuzzüge ins Heilige
Land und andere ähnliche religiöse und weltliche Bewegungen. Auch
unsere heutige Tanzepidemie ist in der Geschichte nicht neu. Vor
Jahrhunderten schon brachen in den verschiedenen Ländern Tanz-
manien aus, und wenn sie auch nicht so verbreitet waren wie die
heutige, so erregten sie doch ebensoviel, wenn nicht mehr Aufsehen,
lind doch scheinen zwischen den alten Tanzmanien und der jetzigen
Unterschiede zu bestehen. Erstens hatten die meisten alten Epide^
mien einen religiösen Hintergrund. Man tanzte zur Ehre Gottes.
Als Beispiele von wichtigeren Tanzepidemien will ich die von Aachen
<1374) und Straßburg <1518) erwähnen. Bei der Straßburger konnten
die Tänzer nur durdi eine Wallfahrt zum Altar des St. Veit geheilt
werden. Zweitens hatten die alten Epidemien schlimmere Folgen
— viele Tänzer wurden zu Tode getrampelt, wenn sie vor Er-
schöpfung niederfielen — und waren auf ein begrenztes Gebiet
beschränkt. Die heutigen Tänze haben nichts mit Religion zu tun
und sind an keinen Ort gebunden. Jeder, fast die ganze Welt, tanzt
heute die neuen Tänze.
Wir wollen jetzt diese über die ganze Erde verbreitete Be-
wegung, die vor zwei Jahren in den Vereinigten Staaten auf kam
und sich wie ein Lauffeuer über die ganze Welt verbreitete, unter-
suchen. Wir kennen alle die Wichtigkeit, mit der sie in der Familie
und in der Gesellschaft behandelt wird, Man kann ohne Übertreibung
sagen, daß der größte Teil unserer Bevölkerung in zwei Klassen
eingeteilt werden kann: in eine, die tanzt, und in eine, die mit Ver-
gnügen zusieht. Während die große Mehrzahl das Tanzen billigt,
sind einige wenige dagegen. So haben sich gekrönte Häupter ver«
pflichtet gefühlt, Tanzverbote zu erlassen. Man kann die Bedeutung

1 Nadi einem Originalartikel im New York Medical Journal vom
25. April 1914.

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