Die Allmacht der Gedanken und die Mutterleibsphantasie etc.
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Nun ist von allen eingebildeten Befürchtungen, unter denen
der Melancholiker und insbesondere derjenige leidet, der an senilen
Depressionen erkrankt ist, keine so allgemein als die Erwartung
des Todes,- diese wird nicht immer, doch gewöhnlich als Furcht
empfunden. Wenn wir Bulwer Lyttons Leben und »das Volk
der Zukunft« Zusammenhalten, beginnen wir einzusehen, wie eng
die Parallele zwischen den Zügen der Erzählung und den Gefühls-
Strömungen ist, die seinem Leben zugrunde lagen, und daß für den
Verfasser diese Erzählung dieselbe Lösung brachte, wie die Vor-
stellung des Todes dem Melancholiker, der den Verstand ver-
loren hat.
Selbst wenn wir eine Biographie dieses Staatsmannes und
Schriftstellers lesen1, die sich fast ausschließlich mit der dem öffent-
lichen Leben zugewandten Seite befaßt, lassen sich ausreichende
Beweise für quälende Konflikte in seinem Liebesieben finden, die
eine andauernde Rastlosigkeit und häufige Anfälle schmerzlicher De-»
pression bewirkten und in »plötzlichen Ausbrüchen von überwältigen-
dem Pessimismus und tiefer Verdrossenheit« ihren Ausdrude fanden.
Seine Rastlosigkeit — ein typischer Zug im manisdi-depressiven Sym-
ptombild — verursachte eine unaufhörliche, fieberische Tätigkeit, die
bis zu seinem Tode andauerte, die sich aber am deutlichsten in
seiner Jünglingszeit, bei seinem ersten Pariser Aufenthalt zeigte. Er
führte damals ein Leben der Ausschweifung in und außerhalb der
Gesellschaftskreise der heiteren Hauptstadt Frankreichs, das von Pe-
rioden wütender Arbeit unterbrochen wurde, während deren er wie
ein Einsiedler in der Abgeschiedenheit eines kleinen, verborgenen
Lläuschens in Versailles lebte.
Die Ursache dieses freudlosen Daseins lag in der Bindung an
seine Mutter, die zu stark war, um die dauernde Übertragung seiner
Gefühle auf eine andere Frau zu gestatten. Er war, wie die Dinge
lagen, das einzige Kind, denn nach seinem vierten Jahre, in dem sein
Vater starb, lebte er allein mit der Mutter. Selbst während der
Lebenszeit des Vaters war die abnorm starke Zuneigung des Knaben
für den anderen Elternteil ebenso unzweideutig, wie daß er im
Vater seinen Rivalen sah. Dieser war wohl geeignet, die Rolle
eines verhaßten Eindringlings zu spielen, denn er wird als rauh,
befehlshaberisch und zornig geschildert. Daß auch er eifersüchtig war,
zeigt die Feststellung, daß »die Zärtlichkeit, mit welcher der Knabe
ihre Liebe erwiderte, durch den Verdacht, ja durch die Gewißheit
vertieft worden war, daß der strenge Vater ihm seinen übermäßig
großen Anteil an der Mutterliebe mißgönnte«. Nachdem er das Haus
seiner Mutter verlassen hatte, geriet er, sowohl in London wie in
Paris unter den Einfluß mehrerer Frauen, von denen jede an Jahren
und Erfahrung alt genug war, um seine Mutter zu sein und denen
Edwar d Bui wer, First Baron Lytfon, of Knebworth. T, H,
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Nun ist von allen eingebildeten Befürchtungen, unter denen
der Melancholiker und insbesondere derjenige leidet, der an senilen
Depressionen erkrankt ist, keine so allgemein als die Erwartung
des Todes,- diese wird nicht immer, doch gewöhnlich als Furcht
empfunden. Wenn wir Bulwer Lyttons Leben und »das Volk
der Zukunft« Zusammenhalten, beginnen wir einzusehen, wie eng
die Parallele zwischen den Zügen der Erzählung und den Gefühls-
Strömungen ist, die seinem Leben zugrunde lagen, und daß für den
Verfasser diese Erzählung dieselbe Lösung brachte, wie die Vor-
stellung des Todes dem Melancholiker, der den Verstand ver-
loren hat.
Selbst wenn wir eine Biographie dieses Staatsmannes und
Schriftstellers lesen1, die sich fast ausschließlich mit der dem öffent-
lichen Leben zugewandten Seite befaßt, lassen sich ausreichende
Beweise für quälende Konflikte in seinem Liebesieben finden, die
eine andauernde Rastlosigkeit und häufige Anfälle schmerzlicher De-»
pression bewirkten und in »plötzlichen Ausbrüchen von überwältigen-
dem Pessimismus und tiefer Verdrossenheit« ihren Ausdrude fanden.
Seine Rastlosigkeit — ein typischer Zug im manisdi-depressiven Sym-
ptombild — verursachte eine unaufhörliche, fieberische Tätigkeit, die
bis zu seinem Tode andauerte, die sich aber am deutlichsten in
seiner Jünglingszeit, bei seinem ersten Pariser Aufenthalt zeigte. Er
führte damals ein Leben der Ausschweifung in und außerhalb der
Gesellschaftskreise der heiteren Hauptstadt Frankreichs, das von Pe-
rioden wütender Arbeit unterbrochen wurde, während deren er wie
ein Einsiedler in der Abgeschiedenheit eines kleinen, verborgenen
Lläuschens in Versailles lebte.
Die Ursache dieses freudlosen Daseins lag in der Bindung an
seine Mutter, die zu stark war, um die dauernde Übertragung seiner
Gefühle auf eine andere Frau zu gestatten. Er war, wie die Dinge
lagen, das einzige Kind, denn nach seinem vierten Jahre, in dem sein
Vater starb, lebte er allein mit der Mutter. Selbst während der
Lebenszeit des Vaters war die abnorm starke Zuneigung des Knaben
für den anderen Elternteil ebenso unzweideutig, wie daß er im
Vater seinen Rivalen sah. Dieser war wohl geeignet, die Rolle
eines verhaßten Eindringlings zu spielen, denn er wird als rauh,
befehlshaberisch und zornig geschildert. Daß auch er eifersüchtig war,
zeigt die Feststellung, daß »die Zärtlichkeit, mit welcher der Knabe
ihre Liebe erwiderte, durch den Verdacht, ja durch die Gewißheit
vertieft worden war, daß der strenge Vater ihm seinen übermäßig
großen Anteil an der Mutterliebe mißgönnte«. Nachdem er das Haus
seiner Mutter verlassen hatte, geriet er, sowohl in London wie in
Paris unter den Einfluß mehrerer Frauen, von denen jede an Jahren
und Erfahrung alt genug war, um seine Mutter zu sein und denen
Edwar d Bui wer, First Baron Lytfon, of Knebworth. T, H,