Die Psydioanalyse in der Jugendbewegung
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Die Psychoanalyse in der Jugendbewegung.
Von Dr. SIEGFRIED BERNFELD <Wien>.
7V udi die hartnädrigsten Leugner der infantilen Sexualität sprechen
/ \ der eigentlichen Jugendzeit, dem Lebensabschnitt etwa vom
zwölften bis zum zwanzigsten Jahr, eine der erwachsenen
ähnliche Sexualität zu, Zwar iiber Maß, Art und Bedeutung dieses
Triebes in der Pubertät und Nachpubertät sind die Meinungen
geteilt, aber es ist geradezu das theoretisdhe Dogma, daß mit der
Pubertät der Geschlechtstrieb erwache und in ihrem Verlauf immer
mächtiger und bestimmter werde. Merkwürdigerweise bleibt aber in
der Praxis des Erziehungswesens, in der Schule so gut wie im
Hause, diese theoretische Qberzeugung völlig wirkungslos. Audi
die Jugenderziehung ist, wie die Kindererziehung, so organisiert,
als wären ihre Objekte gänzfich asexuelle Wesen. Wo sich dies
Thema jedoch nicht gut ganz übersehen läßt, im Problem der Koe-
dukation und der sexuellen Pädagogik, da ist der Weisheit letzter
Schluß: Verhindern, daß die Jugend geschleditlich erregt werde,-
Erzeugung der Askese, Die Jugend hat sich zu keiner Zeit an die
Forderungen der Erwachsenen gehalten, sondern im geheimen ihrem
Trieb gegeben, was ihm gebührt, Sie behandelte die verantwortlichen
Hüter als nicht kompetent in dieser Frage, ließ sie uneingeweiht
und harmlos und kümmerte sich im übrigen kaum um ihre Lehren
<wo dies aber doch geschah, erzeugten sich oft neurotische Er«
krankungen). Die Sexualität der Jugend blieb so gewissermaßen von
der Gesellsdiaft verdrängt, und darum — ganz so wie die ver»
drängten Triebe der Individuen — völlig unbeherrscht. Es ist ein
Verdienst der Jugend von 1880— 1890 hlerin eine Revolution gebracht
zu haben, Bis dahin fühlten sich einzelne der Jugend clurch das
Sexualmonopol der Erwachsenen bedrängt, verkürzt oder verwirrt
und kämpften dagegen: nun aber fühlten sie sidi als Jugend miß-
verstanden und entwertet und begannen das Redit der jugendlichen
Sexualität zu fordern. Zunächst freilich, so scheint es, war ihr Be*
mühen, die Alten in ihren Forderungen ad absurdum zu führen.
Sie stellten sich gehorsam und versuchten passive Resistenz.
Wedekinds Frühlingserwachen ist ein Ausdruck dieser Haltung,
die er in seiner eigenen Jugend erlebt haben mag und die be»
geisterte Zustimmung der Jugend aus den Neunzigerjahren fand.
Hier war der Vorwurf von einem Meister ausgesprochen,- so
kommt es mit eurer Verheimlichung, seht her, das habt ihr davon!
Der Prozeß der »Entharmlosung der Pädagogik durch die Jugend«
<G. Wyneken) schritt weiter fort. Zu Beginn dieses Jahrhunderts
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Die Psychoanalyse in der Jugendbewegung.
Von Dr. SIEGFRIED BERNFELD <Wien>.
7V udi die hartnädrigsten Leugner der infantilen Sexualität sprechen
/ \ der eigentlichen Jugendzeit, dem Lebensabschnitt etwa vom
zwölften bis zum zwanzigsten Jahr, eine der erwachsenen
ähnliche Sexualität zu, Zwar iiber Maß, Art und Bedeutung dieses
Triebes in der Pubertät und Nachpubertät sind die Meinungen
geteilt, aber es ist geradezu das theoretisdhe Dogma, daß mit der
Pubertät der Geschlechtstrieb erwache und in ihrem Verlauf immer
mächtiger und bestimmter werde. Merkwürdigerweise bleibt aber in
der Praxis des Erziehungswesens, in der Schule so gut wie im
Hause, diese theoretische Qberzeugung völlig wirkungslos. Audi
die Jugenderziehung ist, wie die Kindererziehung, so organisiert,
als wären ihre Objekte gänzfich asexuelle Wesen. Wo sich dies
Thema jedoch nicht gut ganz übersehen läßt, im Problem der Koe-
dukation und der sexuellen Pädagogik, da ist der Weisheit letzter
Schluß: Verhindern, daß die Jugend geschleditlich erregt werde,-
Erzeugung der Askese, Die Jugend hat sich zu keiner Zeit an die
Forderungen der Erwachsenen gehalten, sondern im geheimen ihrem
Trieb gegeben, was ihm gebührt, Sie behandelte die verantwortlichen
Hüter als nicht kompetent in dieser Frage, ließ sie uneingeweiht
und harmlos und kümmerte sich im übrigen kaum um ihre Lehren
<wo dies aber doch geschah, erzeugten sich oft neurotische Er«
krankungen). Die Sexualität der Jugend blieb so gewissermaßen von
der Gesellsdiaft verdrängt, und darum — ganz so wie die ver»
drängten Triebe der Individuen — völlig unbeherrscht. Es ist ein
Verdienst der Jugend von 1880— 1890 hlerin eine Revolution gebracht
zu haben, Bis dahin fühlten sich einzelne der Jugend clurch das
Sexualmonopol der Erwachsenen bedrängt, verkürzt oder verwirrt
und kämpften dagegen: nun aber fühlten sie sidi als Jugend miß-
verstanden und entwertet und begannen das Redit der jugendlichen
Sexualität zu fordern. Zunächst freilich, so scheint es, war ihr Be*
mühen, die Alten in ihren Forderungen ad absurdum zu führen.
Sie stellten sich gehorsam und versuchten passive Resistenz.
Wedekinds Frühlingserwachen ist ein Ausdruck dieser Haltung,
die er in seiner eigenen Jugend erlebt haben mag und die be»
geisterte Zustimmung der Jugend aus den Neunzigerjahren fand.
Hier war der Vorwurf von einem Meister ausgesprochen,- so
kommt es mit eurer Verheimlichung, seht her, das habt ihr davon!
Der Prozeß der »Entharmlosung der Pädagogik durch die Jugend«
<G. Wyneken) schritt weiter fort. Zu Beginn dieses Jahrhunderts