I M A G O
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSyCHCN
ANALySE AUF DIE GEISTES WISSENS CHAFTEN
HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. SIGM. FREUD
SCHRIFTLEITUNG:
V. 4. DR. OTTO RANK / DR. HANNS SACHS 1919
»Der Sturm.«
Von Dr. HANNS SACHS <Wien>.
I. Einleitung.
Den Menschen fehlt es an einem Mitte! der Verständigung.
Die Spradie reicht wohl aus, um uns gegenseitig unsere
Wünsche und Bedürfnisse mitzuteiien, nicht aber audh die
Zustände, in denen jene wurzeln/ wir müssen uns daher meist
damit begnügen, uns die fremde Seele nach dem Muster unserer
eigenen vorzustellen, froh genug, wenn sich uns nur hie und da
ein Zipfel des Vorhangs liiftet, den unsere Eigenart iiber alles
Seelische außer uns breitet. Sich selbst in eine fremde Seele umzu^
formen, so daß man nicht nur Sehnsucht und Sorge des Tages,
nein, auch die im Dämmerlicht des Geistigen verschwebenden
Phantasien bis in den Traum hinein zu erkennen und vorauszu-
ahnen vermag, dann aber diesen Zustand der Einfiihlung so fest^
zuhalten, daß andere folgen und das Wunder mit wachen Augen
schauen können — das ist ohne Zweifel das größte Befreiungs*
werk an der Menschheit.
Diese Psychagogie ist es, der von Anbeginn die Dichter nacN
streben und die nur ein Einziger gemeistert hat.
Die Menschen Shakespeares sprechen nicht aus ihrer
Situation heraus, in die sich der Dichter versetzt hat, sondern aus
dem eigenen Ich, und in so tiefstmenschlicher Wahrheit, daß zwar
lauter einzigartige, nie wiederkehrende Persönlichkeiten vor uns zu
stehen scheinen aber doch die Worte seiner Helden und Lumpen,
Königinnen und Dirnen nodi heute von allen Menschenlippen klingen.
Wer so fürstlich über aüen andern Geistern thront, der wird es
lieben, seinen Glanz zu verhüllen, um unerkannt, wie Harun al
Raschid durch die Gassen Bagdads, durch das Leben zu ziehen.
War es nun Absicht oder ein dienender Zufall, jedenfalls ist es
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSyCHCN
ANALySE AUF DIE GEISTES WISSENS CHAFTEN
HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. SIGM. FREUD
SCHRIFTLEITUNG:
V. 4. DR. OTTO RANK / DR. HANNS SACHS 1919
»Der Sturm.«
Von Dr. HANNS SACHS <Wien>.
I. Einleitung.
Den Menschen fehlt es an einem Mitte! der Verständigung.
Die Spradie reicht wohl aus, um uns gegenseitig unsere
Wünsche und Bedürfnisse mitzuteiien, nicht aber audh die
Zustände, in denen jene wurzeln/ wir müssen uns daher meist
damit begnügen, uns die fremde Seele nach dem Muster unserer
eigenen vorzustellen, froh genug, wenn sich uns nur hie und da
ein Zipfel des Vorhangs liiftet, den unsere Eigenart iiber alles
Seelische außer uns breitet. Sich selbst in eine fremde Seele umzu^
formen, so daß man nicht nur Sehnsucht und Sorge des Tages,
nein, auch die im Dämmerlicht des Geistigen verschwebenden
Phantasien bis in den Traum hinein zu erkennen und vorauszu-
ahnen vermag, dann aber diesen Zustand der Einfiihlung so fest^
zuhalten, daß andere folgen und das Wunder mit wachen Augen
schauen können — das ist ohne Zweifel das größte Befreiungs*
werk an der Menschheit.
Diese Psychagogie ist es, der von Anbeginn die Dichter nacN
streben und die nur ein Einziger gemeistert hat.
Die Menschen Shakespeares sprechen nicht aus ihrer
Situation heraus, in die sich der Dichter versetzt hat, sondern aus
dem eigenen Ich, und in so tiefstmenschlicher Wahrheit, daß zwar
lauter einzigartige, nie wiederkehrende Persönlichkeiten vor uns zu
stehen scheinen aber doch die Worte seiner Helden und Lumpen,
Königinnen und Dirnen nodi heute von allen Menschenlippen klingen.
Wer so fürstlich über aüen andern Geistern thront, der wird es
lieben, seinen Glanz zu verhüllen, um unerkannt, wie Harun al
Raschid durch die Gassen Bagdads, durch das Leben zu ziehen.
War es nun Absicht oder ein dienender Zufall, jedenfalls ist es