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Dr. Otto Rank
Das Volksepos.
Psydtologisdte Beiträge zu seiner Entstehungsgesdiidite
von Dr. OTTO RANK.
II 1.
Die dichterisdie Phantasiebildung.
»Alle unsere Wüns&e und heißen Triebe, die in
Wahrheit uns in die Zukunft hinübertragen, sudien
wir aus den Bildern derVergangenheit zu sinnlicher
Erkennbarkeit zu gestalten, um so für sie die Form
zu gewinnen, die ihnen die moderne Gegenwart nidit
versdiaffen kann.« n. < . Wr
Richard Wagner.
Das Wesen des poetisdien Sdtaffens ist — trotz einzelner ver*
heißender Einblidce — psydtologisdt nodt so ungeklärt, daß
es scheinen könnte, wir vertausditen eine historisdi unlösbare
Sdiwierigkeit mit einem individualpsydiologisdt ungelösten Problem,
wenn wir versudten, zum Verständnis des Volksepos von der didtte-
risdten Phantasiebildung her vorzudringen,
Bisher mußte nidit nur die Ästhetik mit ihrer begrenzten Proble»
matik und Methodik in der Erkenntnis der poetisdhen Sdiöpfung und
Wirkung letzten Endes versagen, sondern audt die sdiließlidi als Hilfs»
wissensdhaft beigezogene Psydiologie hat, soweit sie sidi in der Be»
sdireibung von Bewußtseinsinhalten erschöpft, nicht minder enttäuscht.
Die PsyÄoanalyse hat zwar, von der Pathologie her, den wenig
durchschauten wesentlichen Anteil der unbewußten Phantasiebildung
grell beleuchtet, vermodite es jedodh in dem an mancherlei Unfaß»
barkeiten grenzenden Bereidi der Kunst nur zu vereinzelten Ein»
siditen in den komplizierten Vorgang der dichterischen Produktion zu
bringen, die noch zu keiner abschließenden Darstellung gediehen sind 2.
Immerhin hat die Analyse des menschlichen Phantasielebens
schon jetzt einige fundamentale Tatsachen sichergestellt, deren Kenntnis
uns endgültig vor Mißverständnissen und Fehlgriffen ähnlicher Art
zu bewahren vermag, wie wir sie in dem jahrhundertelangen Streit
um das Volksepos ebenso hartnädcig bekämpft wie festgehalten sehen.
Haben einsichtigeForscher längst davor gewarnt, die poetisdie Leistung
nach den Regeln einer spitzfindigen Logik zu beurteilen, der selbst
wenige philosophische Systeme standhielten, so verstärkt die Psycho»
analyse dieses Argument durch den Nachweis der Abstammung der
Phantasien aus dem Unbewußten, das nach seinen eigenen, dem
1 Siehe »Imago« V/3 <hes. Anmerkung S. 137).
2 Vgl. nebst den vereinzeiten grundlegenden Hinweisen von Freud des Ver»
fassers Arbeiten: »Der Künstler«, 2. und 3. erweiterte Auflage, Wien und Leipzig
1918, und »Das Inzest'Motiv in Dichtung und Sage«, Wien und Leipzig 1912.
Dr. Otto Rank
Das Volksepos.
Psydtologisdte Beiträge zu seiner Entstehungsgesdiidite
von Dr. OTTO RANK.
II 1.
Die dichterisdie Phantasiebildung.
»Alle unsere Wüns&e und heißen Triebe, die in
Wahrheit uns in die Zukunft hinübertragen, sudien
wir aus den Bildern derVergangenheit zu sinnlicher
Erkennbarkeit zu gestalten, um so für sie die Form
zu gewinnen, die ihnen die moderne Gegenwart nidit
versdiaffen kann.« n. < . Wr
Richard Wagner.
Das Wesen des poetisdien Sdtaffens ist — trotz einzelner ver*
heißender Einblidce — psydtologisdt nodt so ungeklärt, daß
es scheinen könnte, wir vertausditen eine historisdi unlösbare
Sdiwierigkeit mit einem individualpsydiologisdt ungelösten Problem,
wenn wir versudten, zum Verständnis des Volksepos von der didtte-
risdten Phantasiebildung her vorzudringen,
Bisher mußte nidit nur die Ästhetik mit ihrer begrenzten Proble»
matik und Methodik in der Erkenntnis der poetisdhen Sdiöpfung und
Wirkung letzten Endes versagen, sondern audt die sdiließlidi als Hilfs»
wissensdhaft beigezogene Psydiologie hat, soweit sie sidi in der Be»
sdireibung von Bewußtseinsinhalten erschöpft, nicht minder enttäuscht.
Die PsyÄoanalyse hat zwar, von der Pathologie her, den wenig
durchschauten wesentlichen Anteil der unbewußten Phantasiebildung
grell beleuchtet, vermodite es jedodh in dem an mancherlei Unfaß»
barkeiten grenzenden Bereidi der Kunst nur zu vereinzelten Ein»
siditen in den komplizierten Vorgang der dichterischen Produktion zu
bringen, die noch zu keiner abschließenden Darstellung gediehen sind 2.
Immerhin hat die Analyse des menschlichen Phantasielebens
schon jetzt einige fundamentale Tatsachen sichergestellt, deren Kenntnis
uns endgültig vor Mißverständnissen und Fehlgriffen ähnlicher Art
zu bewahren vermag, wie wir sie in dem jahrhundertelangen Streit
um das Volksepos ebenso hartnädcig bekämpft wie festgehalten sehen.
Haben einsichtigeForscher längst davor gewarnt, die poetisdie Leistung
nach den Regeln einer spitzfindigen Logik zu beurteilen, der selbst
wenige philosophische Systeme standhielten, so verstärkt die Psycho»
analyse dieses Argument durch den Nachweis der Abstammung der
Phantasien aus dem Unbewußten, das nach seinen eigenen, dem
1 Siehe »Imago« V/3 <hes. Anmerkung S. 137).
2 Vgl. nebst den vereinzeiten grundlegenden Hinweisen von Freud des Ver»
fassers Arbeiten: »Der Künstler«, 2. und 3. erweiterte Auflage, Wien und Leipzig
1918, und »Das Inzest'Motiv in Dichtung und Sage«, Wien und Leipzig 1912.