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Dr. Ludwig Levy
Ist das Kainszeichen die Beschneidung?
Ein kritisdier Beitrag zur Bibelexegese.
Von Dr. LUDWIG LEVy, Brünn.
Vor kurzem veröffentlichte Dr. Theodor Reik im Jahrgang V,
Helt 1 <1917) dieser Zeitschrift einen psycho=analytis(hen BeL
trag zur Bibelerklärung: Das Kainszeichen. Reik verficht die
These, das Kainszeichen sei die Beschneidung gewesen und sei mit
clen Einschnitten in eine Linie zu steffen, die die Primitiven in
der Trauer um einen Toten ihrem Körper zufügen, Auf die Frage,
gegen wen das Zeichen Kain schütze, antwortet Reik: gegen ihn
selbst, vor den Selbstbestrafungstendenzen, die unbewußt in ihm
leben. Kains Verbrechen habe außer dem Brudermord auch in der
Befriedigung inzestuöser Regungen bestanden. Das Zeichen sei nach
dem Jus talionis eine Selbstversttimmelung des Penis gewesen, die
ihrer Absicht nach der Kastration gleichkomme, sei also als Be«
schneidung aufzufassen und bedeute eine Bestrafung der inzestuösen
Wünsche, welche Kain zum Brudermord getrieben haben, Die in-
zestuösen Wünsche findet Reik im Pflügen des Ackers angedeutet, der
bekanntlich ein Sexualsymbol für das Weib ist. Aus der späteren
j üdisch=christlichen Tradition führt er eine Sage an, die den Bruder-
mord Kains aus der Eifersucht des Älteren auf eine Schwester,
welche die Eltern Abel zugedacht haben, erklärt, Ich halte diese
Hypothese für einen Fehlgriff, es scheint mir unmöglich, daß das
Kainszeichen die Beschneidung sein kann. Zunächst entfernt sich die
Deutung viel zu weit von dem Bericht der Bibel und trägt Momente
hinein, für die kein Anhaltspunkt gegeben ist. Es liegt kein Grund
vor, im Kainszeichen gegen den Wortlaut der Bibel, der ausdrüddich
von einem Schutzzeichen spricht, eine Trauerverstümmelung zu sehen.
Tätowierungen haben teils ästhetische Griinde, teils waren sie
Stammesabzeichen. Das Stammesabzeidhen war ein Schutzzeidien
»gegen jeden, der einem begegnete«, weil der Angreifer riskierte,
die Blutrache des ganzen Stammes auf sidi zu ziehen. Konnte nun
dieses Stammesabzeichen bei Kain die Beschneidung sein? Es sprechen
die gewichtigsten Gründe dagegen. Erstens hätte die Bibel ein Zeichen,
das später eine solche Rolle spielt, deutlich genannt, wie es an den
Stellen, die auf den Ursprung der Beschneidung Bezug nehmen, tat-
sächlich geschieht. Dann ist es ausgeschlossen, daß ein Zeichen von
einer religiösen und nationalen Heiligkeit, wie clie Beschneidung, von
der Bibel auf einen Mord zurückgeleitet wird. Schließlich aber wider-
spräche es ganz dem Aufbau der Genesis, wenn an dieser Stelle
Dr. Ludwig Levy
Ist das Kainszeichen die Beschneidung?
Ein kritisdier Beitrag zur Bibelexegese.
Von Dr. LUDWIG LEVy, Brünn.
Vor kurzem veröffentlichte Dr. Theodor Reik im Jahrgang V,
Helt 1 <1917) dieser Zeitschrift einen psycho=analytis(hen BeL
trag zur Bibelerklärung: Das Kainszeichen. Reik verficht die
These, das Kainszeichen sei die Beschneidung gewesen und sei mit
clen Einschnitten in eine Linie zu steffen, die die Primitiven in
der Trauer um einen Toten ihrem Körper zufügen, Auf die Frage,
gegen wen das Zeichen Kain schütze, antwortet Reik: gegen ihn
selbst, vor den Selbstbestrafungstendenzen, die unbewußt in ihm
leben. Kains Verbrechen habe außer dem Brudermord auch in der
Befriedigung inzestuöser Regungen bestanden. Das Zeichen sei nach
dem Jus talionis eine Selbstversttimmelung des Penis gewesen, die
ihrer Absicht nach der Kastration gleichkomme, sei also als Be«
schneidung aufzufassen und bedeute eine Bestrafung der inzestuösen
Wünsche, welche Kain zum Brudermord getrieben haben, Die in-
zestuösen Wünsche findet Reik im Pflügen des Ackers angedeutet, der
bekanntlich ein Sexualsymbol für das Weib ist. Aus der späteren
j üdisch=christlichen Tradition führt er eine Sage an, die den Bruder-
mord Kains aus der Eifersucht des Älteren auf eine Schwester,
welche die Eltern Abel zugedacht haben, erklärt, Ich halte diese
Hypothese für einen Fehlgriff, es scheint mir unmöglich, daß das
Kainszeichen die Beschneidung sein kann. Zunächst entfernt sich die
Deutung viel zu weit von dem Bericht der Bibel und trägt Momente
hinein, für die kein Anhaltspunkt gegeben ist. Es liegt kein Grund
vor, im Kainszeichen gegen den Wortlaut der Bibel, der ausdrüddich
von einem Schutzzeichen spricht, eine Trauerverstümmelung zu sehen.
Tätowierungen haben teils ästhetische Griinde, teils waren sie
Stammesabzeichen. Das Stammesabzeidhen war ein Schutzzeidien
»gegen jeden, der einem begegnete«, weil der Angreifer riskierte,
die Blutrache des ganzen Stammes auf sidi zu ziehen. Konnte nun
dieses Stammesabzeichen bei Kain die Beschneidung sein? Es sprechen
die gewichtigsten Gründe dagegen. Erstens hätte die Bibel ein Zeichen,
das später eine solche Rolle spielt, deutlich genannt, wie es an den
Stellen, die auf den Ursprung der Beschneidung Bezug nehmen, tat-
sächlich geschieht. Dann ist es ausgeschlossen, daß ein Zeichen von
einer religiösen und nationalen Heiligkeit, wie clie Beschneidung, von
der Bibel auf einen Mord zurückgeleitet wird. Schließlich aber wider-
spräche es ganz dem Aufbau der Genesis, wenn an dieser Stelle