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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 5.1917-1919(1919)

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Reik, Theodor: Das Kainszeichen: ein psychoanalytischer Beitrag zur Bibelerklärung
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https://doi.org/10.11588/diglit.25679#0041

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Das Kainszeidicn

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Das Kainszeidien.

Ein psychoanalytischer Beitrag zur Bibelerklärung.
Von Dr. THEODOR REIK 1.

Ma ditemi, che son li segni bui
Di questo corpo, che laggiuso in terra
Fan di Cain favologgiare altrui?

Dante, Paradiso II. 49—51.

Wenn wir heute vom Kainszeichen sprechen, so geschieht es
gewöhnlich in der Art, daß wir darunter die äußerlidi
sichtbare Marke von etwas Abscheulichem oder gar Ver-
bredierischem verstehen. Ein Kainszeichen aufgedrüdct erhalten, heißt
soviel wie gebrandmarkt werden 2. Ein Bedeutungswandel ist in
der Geschidite dieses Wortes zu verzeidinen, denn in der Heiligen
Schrift hat das Kainszeichen eine andere Funktion. Nach der Er-
mordung Abels spradi der Herr zu dem Verbrecher 3: »Was hast
du getan! Horch, das Blut deines Bruders sdhreit zu mir vom Erd«
boden her. Und nun — verflucht sollst du sein, hinweg=[getrieben]
von dem Boden, der seinen Mund aufgetan hat, um das Blut
deines Bruders von deiner Hand in Empfang zu nehmen. Wenn
du den Boden bebaust, soll er dir keinen Ertrag mehr geben/ un»
stät und flüchtig sollst du sein auf Erden!« Da spradi Kain zu
Jahwe: »Unerträglidi sind die Folgen meiner Verschuldung. Du
treibst mich jetzt hinweg vom Ackerland und vor deinem Angesicht
muß ich mich verbergen und muß unstät und flüchtig sein auf
Erden und wer mich irgend antrifft, wird mich totschlagen.« Da
sprach Jahwe zu ihm: »Ebendarum soll, wer Kain ersdilägt, sieben»
fältiger Rache verfaflen.« Und Jahwe bestimmte ein Zeichen für
Kain, damit ihn nicht erschlüge, wer ihn träfe.

Wir wollen uns hier nicht in die Unterscheidung der einzelnen
Schichten des Elohisten, Jahwisten nnd anderer Bibelredaktoren
sowie in die anderen recht schwierigen Probleme der modemen
Bibelforschung vertiefen, es genügt für unsere Zwecke, wenn wir
darauf hinweisen, daß die uns vorliegende Erzählung von Kain
und Abel eine oft redigierte und korrigierte ist, die sich uns mit

' Nach einem in der Wiener psychoanalytis&en Vereinigung im Dezem»
ber 1914 gehaltenen Vortrage.

* Am 13. Februar 1892 sprach z. B. der Abgeordnete Schneider im
Deutschen Reichstage, indem er einen von Bebel angegriffenen Großindustriellen
verteidigte: »Baare wird von Ihnen verurteilt, nidit weii er schuldig ist, sondern
weil er in Ihren Augen ein Brandmal an der Stirne trägt, das Kainszeichen
nämlich, ein Großindustrieller zu sein.« (Zitiert nach Berthold Stade, Beiträge zur
Pentateuchfcritik in der »Zeitschrift für alttestamentarisdie Wissenschaft«, 1894,
S. 250.)

3 1. Buch Moses IV, 3—16, zitiert nach der großen Bibelübersetzung von
Professor E. Kautzsch.
 
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