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Beata Rank
„Der Vater, den sie, wie einst die Säuglinge die Mutter, gegessen hatten,
war für sie zur zweiten Mutter geworden, von ihm wurden sie jetzt
wiedergeboren."
Zum Schlüsse möchte ich noch darauf hinweisen, daß die hier skizzierte
Stellung der Frau in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft in
der Sphinxfigur der Ödipus-Mythe zum Ausdruck kommt.
Ich gehe hier die Deutung, die mir Otto Rank zur Verfügung stellt:
Nachdem Ödipus den König =Vater getötet hat, tritt ihm auf dem weiteren
Wege nach Theben, dessen König zu werden ihm bestimmt ist, als Ersatz
des eben getöteten Vaters, die mächtige verderbenbringende Mutterfigur
in der Gestalt der Sphinx entgegen, die ja das in Ägypten zur höchsten
Blüte gelangte Mutterrecht repräsentiert. Theben wird sozusagen in der
mutterrechtlichen Übergangsform von der Vater- zur Sohnesherrschaft einst-
weilen von der Sphinx beherrscht und bewacht. Nach Überwindung des
Vaters muß der Sohnesheld nun auch diesen Vaterersatz, d. h. die Männ-
lichkeit der Mutter — die genau wie in der Individualentwicklung von
der Identifizierung mit dem Vater herstammt — beseitigen, bevor er die
Mutter in ihrer weiblichen und sexuellen Bedeutung gewinnen und selbst
die Nachfolge des Vaters an Stelle der „männlichen Mutter" antreten
kann. *
So zeigt also der Ödipus-Mythus in der Verknüpfung der Sphinxfigur
mit dem typischen Heroenmythus sowie in der Aufeinanderfolge der Kämpfe
und Siege ein genaues Abbild der mutterrechtlichen Entwicklungsphasen,
wie ich es aus individualpsychologischen Erwägungen zu erschließen
bemüht war.
Diese Ausführungen, die, ja wie eingangs erwähnt, keineswegs auf
erschöpfende Darstellung des gegebenen Themas Anspruch erheben, sollen
nur in großen Linien den Entwicklungsgang der führenden Frau zeigen
und uns erklärlich machen, warum und von wem sie jedesmal ihre
Niederlage erleidet. Die Wellenbewegung der Entwicklung zeigt uns das
Weib in immer frischem Bilde beim Sturz des König = Vaters, bemüht,
sich der Herrschaft zu bemächtigen. Die Geschichte lehrt uns aber, daß
diese Versuche kläglich mißlingen. Die nach der Mutterüberwindung
strebenden und von der heißen Vateridentifizierung getragenen Söhne
entreißen ihr die Macht. Als Entschädigung dafür erheben sie sie zur
1) Vgl. dazuReik: Ödipus und die Sphinx sowie denDiskussionsbeitragP.Federns
zu diesem Vortrag. Internat. Ztschr. f. Psychoanalyse VIII.
Beata Rank
„Der Vater, den sie, wie einst die Säuglinge die Mutter, gegessen hatten,
war für sie zur zweiten Mutter geworden, von ihm wurden sie jetzt
wiedergeboren."
Zum Schlüsse möchte ich noch darauf hinweisen, daß die hier skizzierte
Stellung der Frau in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft in
der Sphinxfigur der Ödipus-Mythe zum Ausdruck kommt.
Ich gehe hier die Deutung, die mir Otto Rank zur Verfügung stellt:
Nachdem Ödipus den König =Vater getötet hat, tritt ihm auf dem weiteren
Wege nach Theben, dessen König zu werden ihm bestimmt ist, als Ersatz
des eben getöteten Vaters, die mächtige verderbenbringende Mutterfigur
in der Gestalt der Sphinx entgegen, die ja das in Ägypten zur höchsten
Blüte gelangte Mutterrecht repräsentiert. Theben wird sozusagen in der
mutterrechtlichen Übergangsform von der Vater- zur Sohnesherrschaft einst-
weilen von der Sphinx beherrscht und bewacht. Nach Überwindung des
Vaters muß der Sohnesheld nun auch diesen Vaterersatz, d. h. die Männ-
lichkeit der Mutter — die genau wie in der Individualentwicklung von
der Identifizierung mit dem Vater herstammt — beseitigen, bevor er die
Mutter in ihrer weiblichen und sexuellen Bedeutung gewinnen und selbst
die Nachfolge des Vaters an Stelle der „männlichen Mutter" antreten
kann. *
So zeigt also der Ödipus-Mythus in der Verknüpfung der Sphinxfigur
mit dem typischen Heroenmythus sowie in der Aufeinanderfolge der Kämpfe
und Siege ein genaues Abbild der mutterrechtlichen Entwicklungsphasen,
wie ich es aus individualpsychologischen Erwägungen zu erschließen
bemüht war.
Diese Ausführungen, die, ja wie eingangs erwähnt, keineswegs auf
erschöpfende Darstellung des gegebenen Themas Anspruch erheben, sollen
nur in großen Linien den Entwicklungsgang der führenden Frau zeigen
und uns erklärlich machen, warum und von wem sie jedesmal ihre
Niederlage erleidet. Die Wellenbewegung der Entwicklung zeigt uns das
Weib in immer frischem Bilde beim Sturz des König = Vaters, bemüht,
sich der Herrschaft zu bemächtigen. Die Geschichte lehrt uns aber, daß
diese Versuche kläglich mißlingen. Die nach der Mutterüberwindung
strebenden und von der heißen Vateridentifizierung getragenen Söhne
entreißen ihr die Macht. Als Entschädigung dafür erheben sie sie zur
1) Vgl. dazuReik: Ödipus und die Sphinx sowie denDiskussionsbeitragP.Federns
zu diesem Vortrag. Internat. Ztschr. f. Psychoanalyse VIII.