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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 32.1916-1917

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Schubring, Paul; Klinger, Max [Ill.]: "Das Zelt": Max Klingers neuer Radierzyklus
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https://doi.org/10.11588/diglit.13746#0107

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„DAS ZELT"
MAX KLINGERS NEUER RADIERZYKLUS

Von Paul Schubring

Die gedankenreichen, grüblerischen Künst-
ler haben von je gern in der graphischen
Folge sich umfassend zu den Problemen des
Lebens geäußert. Einer Natur wie Dürer bot
sich in der biblischen Reihe der Gesichte,
wie sie die dumpfheißen jüdischen Visionen
der Apokalypse enthalten, die Unterlage für
Deutung und Bekenntnis seiner ringenden
Seele. Obwohl treu in der Deskription des
Einzelnen, schwingt er den Bogen des Ganzen
doch ganz frei und hoch bis in seine eigene
Zeit hinein. Das babylonische Weib und die
Engel am Euphrat waren ihm nicht ferne
krause Wildlinge, sondern Boten und Träger
seiner eigensten Seufzer. Und was ist das
Große seiner Passionsfolgen, abgesehen von
der Klarheit ihrer Formensprache? Doch auch
das Ewigmenschliche, das diese Zyklen innig
mit Bachs Matthäuspassion verbindet, die ewig
alte Tragödie des leidenden Menschen, dessen
Schicksal unser aller Schicksal ist. Auch
Holbeins „Bilder vom Tode", als „Totentanz"
bekannt, können nicht eine freie Dichtung
genannt werden. Der Künstler entnahm die
meisten Gedanken aus dem alten Baseler
Totentanz und füllte nur die Situation mit
neuen, menschlicheren Einzelheiten.

Diesen Zyklen der Zeit um 1490 bis 1520
entspricht seltsamerweise kein Gegenstück des
17. Jahrhunderts, das doch die Radierung er-
fand und damit eine Technik, mit unvergleich-
lich geringerer Mühe Gedanken und Gestal-
ten zu fixieren, als es im Holzschnitt möglich
war. Es scheint ungemein bezeichnend, daß
Rembrandt keine Zyklen radiert hat. Wenn
wir heute seine alttestamentlichen oder neu-
testamentlichen Blätter zusammenstellen, so
fühlen wir deutlich, daß alle Blätter Einzel-
blätter sind, die keine Bindung, Steigerung und
Verknüpfung zulassen. Auch die Kleineren um
ihn haben sich auf äußerliche Gruppierungen
beschränkt, bei denen die Jahreszeiten, die
Monate, die Freuden des Sommers und Win-
ters herhalten mußten. Das endende achtzehnte
Jahrhundert bringt dann erst wieder echte Zykli-
ker in Hogarth und Goya. Beide tun nun den
großen Schritt, selbständig zu dichten und zu
denken. War Hogarth durchaus ethisch inter-
essiert, so gab Goya in seiner Tauromachie,
in den Desastros de la Guerra lose gereihte
Folgen, in denen jedes Bild für sich spricht,

das Ganze aber sich zu einer intensiven Ein-
heit zusammenschließt, die von einer seltenen
Schlagkraft ist, wie bedeutende Variationen
eines unerschöpflichen musikalischen Themas.
Bei Goya dichtet der Zirkus, der Krieg, das
Volk. Das Sonntagsspiel des Stierkampfes, das
Mordspiel napoleonischer Heere, der grimmige
Haß und Witz des Geplünderten sind die
eigentlichen Schauspieler.

Im 19. Jahrhundert ist dann die Folge häufig
geworden, zumal Senefelders Erfindung eine
neue technische Erleichterung brachte. Das
Selbständigste und Bedeutendste hat Max
Klinger geleistet, der seit 1878, als er mit
der Folge „Zum Thema Christus" die Em-
pörung der Berliner Geistlichkeit entfesselte,
also seit fast 40 Jahren am Werk ist. Soeben hat
der nun bald 60 jährige Künstler einen neuen
Zyklus, Das Zelt, herausgegeben, eine doppelte
Folge von 46 Blättern (Verlag von Amsler &
Ruthardt-Berlin). Wieder steht das Thema:
Das Weib im Mittelpunkt der Dichtung. Aber
im Gegensatz zu den Dichtungen „Eine Liebe",
„Ein Leben" und „Vom Tode" ist jeder Natu-
ralismus vermieden; alles bleibt in der äus-
serten Typik. Es ist deshalb schwer, die
Blätter zu beschreiben. Immerhin soll der
Versuch gemacht werden, die Andeutungen der
Nadel und Aquatinta einigermaßen in Worte
umzusetzen.

A. Erster Teil

1. Vorspiel. In Wolkenschleiern schwebt
ein nacktes, schlafendes Mädchen über den
Wassern der Welt. Es ruht in der Mulde
seiner langen goldenen Locken. Ueber ihr er-
scheinen die Hüter der Ordnung, Papst, König
und Richter. Auf der Insel, die sich in der
Tiefe aus den Wassern hebt — man denkt
wohl an die Küste bei Capri — duckt sich
unter einer muschelartigen Schale der Teufel
und lauert. Es beginnt also sofort mit dem
Kampf entgegengesetzter Geister um das noch
in Wolken schlummernde Geschöpf.

2. Zelt. Große herrliche Terrassenlandschaft
des Südens mit Schneebergen. Vorn auf der
Wiese weiden friedlich Kühe und Ziegen. In der
Mitte des Rasens steht ein großes geschlosse-
nes Zelt. Hier entwirkt sich das junge Leben,
dessen Schicksal nun geschildert werden soll.
Kein Mensch wird auf der Wiese sichtbar.

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