Eispickel. Aber es war immer ein und das-
selbe. Dessen erinnere ich mich genau und
man lachte viel über diese nichts weniger als
merkwürdigen Zeichnungen." Gesundet, wurde
der Jüngling regelrechter Lehrbub in des Va-
ters Werkstatt, machte seine dreijährige Lehr-
zeit durch, wurde als Gehilfe rite freige-
sprochen und arbeitete dann noch einige
Zeit lang im Lohnverhältnis bei seinem Er-
zeuger und Meister. An ihm hat sich jeden-
falls die alte Wahrheit bewährt, daß gründliche
Erlernung und sorgfältige Durchbildung bei
der Einführung in einen stofformenden Be-
ruf — das ist die edle Schneiderkunst —
grundlegend auch nach anderer Seite hin wirkt.
Wer die natürlichen Bearbeitungsbedingungen
des Materials gründlich kennen und verstehen
lernt, erfährt, was viele auf „höherem Stand-
punkt" Stehende oft nicht einsehen: daß die
bildende Menschenhand sich den Erforder-
nissen des Stoffes anzubequemen hat, nicht
umgekehrt, und daß in der Ausgeglichenheit
zwischen diesen beiden Faktoren allein tech-
nische Meisterschaft groß werden kann. —
Der junge Schneider Joseph fand sich indes
mit den Errungenschaften der Werkstatt allein
nicht ab. Daß er an sich selbst anatomische
Studien trieb, schien, wenn auch nicht gerade
notwendig, so doch im Interesse des Berufes
nicht gerade verwerflich. Das aber war der
Punkt, wo der immer stärker wirkende Gä-
rungsprozeß einsetzte, der Wandlungen un-
berechenbarer Art zustande bringt. Hier lag
jenes besondere „Sehen" zugrunde, wie es
nur Menschen von wirklich künstlerischer
Begabung eignet. — Man war aus der Stadt
weg hinaus aufs Land gezogen, in ein Häus-
chen, das, von einem Bildhauer erbaut, äußer-
lich zwar einfach aussieht, immerhin aber in
bezug auf die Mauergliederung künstlerisches
Wollen verrät. Am Putz der Außenwand be-
finden sich außerdem ein paar gute Kopien
klassischer Reliefs. Josephs Mutter, eine Gärt-
nerstochter, konnte da auch in Blumenkultur,
wie dem fachlich richtig betriebenen Gemüsebau
obliegen. Die guten und sauberen Stuben sind im-
mer reichlich mit Blumensträußen geschmückt.
Nebenher las der junge Schneider viel — aber
nicht etwa Indianergeschichten, Hintertreppen-
romane oder die so sehr in Verruf geratenen
Karl May-Erzeugnisse, nein! Ein in der Nähe
wohnender gymnasialer Lateiner, der die Zeit
der großen Ferien einmal bei einem Bauern
als Knechtlein, ein andermal in einer Elektro-
werkstatt als Lehrbub zubrachte, fand den
jungen Handwerker in seinen Anschauungen
weit anziehender als die Mehrzahl seiner Kol-
legen. So entstand eine intime Freundschaft
zwischen den beiden. Daher datierte denn
wohl Weiß' Bekanntschaft mit Goethescher
Literatur. Für Shakespeare schwärmte er der-
maßen, daß er ganze Szenen auswendig lernte.
Ja, manche Menschen haben eben Geschmack
ohne daß er ihnen eingedrillt oder an-ästhe-
tisiert wird. Der junge Schneider dichtete
auch, schrieb nach langen Waldspaziergängen
seitenumfassende poetische Ergüsse in sein
Tagebuch, ja er schreckte nicht vor Tastver-
suchen im Reiche des Dramas zurück. Später
hat er all das viele Papier einmal verbrannt.
— Der Vater schaffte, als die Bildungsbedürf-
nisse des Sohnes sich immer stürmischer an-
ließen, ein Klavier an. Der Junge klimperte
darauf. Sonntags durfte er, der noch immer
Schneider war, eine Unterrichtsstunde bei ir-
gend einer inferioren Kraft nehmen — kurzum
Nadel und Schere beschäftigten ihn wohl in
der Woche tagsüber. In den Feierstunden
aber schlug der Gedanken Flug wesentlich
andere Bahnen ein. Den schlichten Eltern
blieb das auf die Dauer nicht verborgen. Die
alte Geschichte! Der Vater stellte sich der
anti-schneiderlichen Entwicklung des jungen
Fachgenossen mit allen Mitteln in den Weg,
mehr als einmal, nicht bloß in Form sprach-
licher Erörterungen---.
„Du wirst ein Taugenichts, ein Faulenzer,
der zu nichts gut ist, wie so viele andere, die
sich Künstler nennen und weiter nichts sind,
als herumlungernde Tagdiebe!"
Es half nichts!
Der Hang zur Kunst, den die Eltern wenig-
stens nach der musikalischen Seite hin nütz-
lich zu gestalten hofften, wandte sich ausge-
sprochenermaßen der bildnerischen zu, kam
mit der Kraft einer tiefwurzelnden Pflanze,
deren Wachstum trotz Beschneidungen aller
Art immer wieder dem Licht entgegendringt,
obenauf und — siegte schließlich. Damit wur-
den die musikalischen Studien gänzlich abge-
brochen! „Man kann nicht zweien Herren die-
nen — ich werde mit dem einen genug zu tun
haben", äußerte sich der willensstarke, junge
schmächtige Mann, dessen innerstes Wesen
den guten Eltern nicht so ganz offen war. Sie
vermochten nicht zu lesen, was auf dieser
breiten Stirn, was in diesen ruhig und ernst
blickenden Augen geschrieben stand.
Weiß trat in eine der zahlreichen Münch-
ner Privat-Malschulen ein. Daß er zuvor keine
„höheren Schulen" besuchte, war für seine
künstlerische Eigenart kein Unglück. Er konnte
sich selbst treu bleiben und brauchte, selbst
eine Kraftnatur, später keinerlei aufgepfropfte
Reiser abzuwerfen. In der Malschule behagte
es ihm wenig. Der Lehrer dozierte ihm zu
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selbe. Dessen erinnere ich mich genau und
man lachte viel über diese nichts weniger als
merkwürdigen Zeichnungen." Gesundet, wurde
der Jüngling regelrechter Lehrbub in des Va-
ters Werkstatt, machte seine dreijährige Lehr-
zeit durch, wurde als Gehilfe rite freige-
sprochen und arbeitete dann noch einige
Zeit lang im Lohnverhältnis bei seinem Er-
zeuger und Meister. An ihm hat sich jeden-
falls die alte Wahrheit bewährt, daß gründliche
Erlernung und sorgfältige Durchbildung bei
der Einführung in einen stofformenden Be-
ruf — das ist die edle Schneiderkunst —
grundlegend auch nach anderer Seite hin wirkt.
Wer die natürlichen Bearbeitungsbedingungen
des Materials gründlich kennen und verstehen
lernt, erfährt, was viele auf „höherem Stand-
punkt" Stehende oft nicht einsehen: daß die
bildende Menschenhand sich den Erforder-
nissen des Stoffes anzubequemen hat, nicht
umgekehrt, und daß in der Ausgeglichenheit
zwischen diesen beiden Faktoren allein tech-
nische Meisterschaft groß werden kann. —
Der junge Schneider Joseph fand sich indes
mit den Errungenschaften der Werkstatt allein
nicht ab. Daß er an sich selbst anatomische
Studien trieb, schien, wenn auch nicht gerade
notwendig, so doch im Interesse des Berufes
nicht gerade verwerflich. Das aber war der
Punkt, wo der immer stärker wirkende Gä-
rungsprozeß einsetzte, der Wandlungen un-
berechenbarer Art zustande bringt. Hier lag
jenes besondere „Sehen" zugrunde, wie es
nur Menschen von wirklich künstlerischer
Begabung eignet. — Man war aus der Stadt
weg hinaus aufs Land gezogen, in ein Häus-
chen, das, von einem Bildhauer erbaut, äußer-
lich zwar einfach aussieht, immerhin aber in
bezug auf die Mauergliederung künstlerisches
Wollen verrät. Am Putz der Außenwand be-
finden sich außerdem ein paar gute Kopien
klassischer Reliefs. Josephs Mutter, eine Gärt-
nerstochter, konnte da auch in Blumenkultur,
wie dem fachlich richtig betriebenen Gemüsebau
obliegen. Die guten und sauberen Stuben sind im-
mer reichlich mit Blumensträußen geschmückt.
Nebenher las der junge Schneider viel — aber
nicht etwa Indianergeschichten, Hintertreppen-
romane oder die so sehr in Verruf geratenen
Karl May-Erzeugnisse, nein! Ein in der Nähe
wohnender gymnasialer Lateiner, der die Zeit
der großen Ferien einmal bei einem Bauern
als Knechtlein, ein andermal in einer Elektro-
werkstatt als Lehrbub zubrachte, fand den
jungen Handwerker in seinen Anschauungen
weit anziehender als die Mehrzahl seiner Kol-
legen. So entstand eine intime Freundschaft
zwischen den beiden. Daher datierte denn
wohl Weiß' Bekanntschaft mit Goethescher
Literatur. Für Shakespeare schwärmte er der-
maßen, daß er ganze Szenen auswendig lernte.
Ja, manche Menschen haben eben Geschmack
ohne daß er ihnen eingedrillt oder an-ästhe-
tisiert wird. Der junge Schneider dichtete
auch, schrieb nach langen Waldspaziergängen
seitenumfassende poetische Ergüsse in sein
Tagebuch, ja er schreckte nicht vor Tastver-
suchen im Reiche des Dramas zurück. Später
hat er all das viele Papier einmal verbrannt.
— Der Vater schaffte, als die Bildungsbedürf-
nisse des Sohnes sich immer stürmischer an-
ließen, ein Klavier an. Der Junge klimperte
darauf. Sonntags durfte er, der noch immer
Schneider war, eine Unterrichtsstunde bei ir-
gend einer inferioren Kraft nehmen — kurzum
Nadel und Schere beschäftigten ihn wohl in
der Woche tagsüber. In den Feierstunden
aber schlug der Gedanken Flug wesentlich
andere Bahnen ein. Den schlichten Eltern
blieb das auf die Dauer nicht verborgen. Die
alte Geschichte! Der Vater stellte sich der
anti-schneiderlichen Entwicklung des jungen
Fachgenossen mit allen Mitteln in den Weg,
mehr als einmal, nicht bloß in Form sprach-
licher Erörterungen---.
„Du wirst ein Taugenichts, ein Faulenzer,
der zu nichts gut ist, wie so viele andere, die
sich Künstler nennen und weiter nichts sind,
als herumlungernde Tagdiebe!"
Es half nichts!
Der Hang zur Kunst, den die Eltern wenig-
stens nach der musikalischen Seite hin nütz-
lich zu gestalten hofften, wandte sich ausge-
sprochenermaßen der bildnerischen zu, kam
mit der Kraft einer tiefwurzelnden Pflanze,
deren Wachstum trotz Beschneidungen aller
Art immer wieder dem Licht entgegendringt,
obenauf und — siegte schließlich. Damit wur-
den die musikalischen Studien gänzlich abge-
brochen! „Man kann nicht zweien Herren die-
nen — ich werde mit dem einen genug zu tun
haben", äußerte sich der willensstarke, junge
schmächtige Mann, dessen innerstes Wesen
den guten Eltern nicht so ganz offen war. Sie
vermochten nicht zu lesen, was auf dieser
breiten Stirn, was in diesen ruhig und ernst
blickenden Augen geschrieben stand.
Weiß trat in eine der zahlreichen Münch-
ner Privat-Malschulen ein. Daß er zuvor keine
„höheren Schulen" besuchte, war für seine
künstlerische Eigenart kein Unglück. Er konnte
sich selbst treu bleiben und brauchte, selbst
eine Kraftnatur, später keinerlei aufgepfropfte
Reiser abzuwerfen. In der Malschule behagte
es ihm wenig. Der Lehrer dozierte ihm zu
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