Kunst-
München.
Zeitschrift
des
e w e r l> e - V e r e i n s.
Neunzehnter Jahrgang.
/Ts r 4* .
1869.
Petitzeile berechnet
Theodor Ackermann dahier wenden.
sich dieserhalb
Buchhandlung von
Die Lehre von der Schönheit und die Technik.
Bon Dr. Kichtnistein.
Unsere Zeit, welche als eine in vielfachster Beziehung unreife
und unfertige Uebergangszeit zu einer neuen Gestaltung des Lebens
auftritt, leidet durch ihre Unfertigkeit an einer ganzen Reihenfolge
von Widersprüchen. So steht mit der hohen Bildungsstufe, welche
die gegenwärtig lebende Generation im Vergleich mit den Bildungs-
stufen vergangener Jahrhunderte errungen zu haben glaubt, die
Thatsache in Widerspruch, daß unserem vorgeschrittenen neunzehnten
Jahrhundert viele Wahrheiten, welche sich früher ganz von selbst
verstanden, nur durch deren unermüdliche Wiederholung und Aus-
einandersetzung begreiflich gemacht werden können. Eine dieser Wahr-
heiten, welche Jahrtausende hindurch verwirklicht war, und nicht
erst bewiesen zu werden brauchte, welche aber in unseren Tagen
als eine nahezu verloren gegangene erst wieder entdeckt werden
mußte, ist die Wahrheit, daß das Handwerk seiner Natur und seiner
Bestimmung nach als Kunsthandwerk anslreten sollte. Es ist
bekannt, wie viele Mühe und Ausdauer es gekostet hat und noch
immer kostet, sowohl bei den Producenten wie bei dem kaufenden
Publikum mit wirklichem Erfolg die Wahrheit einzubürgern, daß
an unseren Kleidungsstücken und an unserem Hausrath die Zweck-
mäßigkeit der Form in wenn auch noch so einfache und anspruchs-
lose Schönheit übergehen sollte.
Allmählig wenn auch langsam genug wird nun diese Wahrheit
wieder zum Gemeingut der europäischen Culturvölker; aber hiemit
ist im Grunde nur wenig geleistet, wenn nicht zu gleicher Zeit
auf die eindringlichste Weise sowohl den Producenten wie dem
kaufenden Publikum der wichtige Satz als ein wahrer Grundsatz
eingeschärft wird, daß die schöne Form immer in genauestem Zu-
sammenhang mit der eigenthümlichen Behandlungsweise, welche das
Material, welche der Rohstoff verlangt, stehen müsse. Jedes Ma-
terial, jeder Rohstoff muß ja erst durch das Werkzeug der Werk-
zeuge, durch die menschliche Hand sowie durch andere verschieden
geformte Instrumente, welche die Kraft und Kunstfertigkeit der mensch-
lichen Hand verstärken und vervielfältigen, zubcreitct und gefügig
gemacht werden. Es geberdet sich wiederspcnstig und zwar jedes
Material wieder in anderer Weise und in verschiedenem Grade.
Während nun durch die mannichfaltigsten Werkzeuge und Hand-
thierungen sein Widerstand gebrochen und während es gefügig ge-
macht wird, die ihm von dem menschlichen Geist vorgezeichnete Form
anzunehmen, ist an ihm selbst ein natürliches Formenspiel zu beob-
achten , welches von den durch die Natur dem Material mitgegebenen
Eigenschaften herrührt. Mit diesem natürlichen Formenspiel, welches
dav Material während seiner technischen Behandlung zeigt, muß
der Schönheitssinn des Menschen in Verbindung treten, wenn er
nicht etwas Sinnwidriges und Stilwidriges schaffen will. Zu
jenem natürlichen Formenspiel gehört beispielsweise die Ziehbarkeit
und Dehnbarkeit eines Materials, die verschiedene Art sich zu spalten
und zu verästeln, sich zu verdünnen oder zu verdicke», sich zu drehen
und zusammenzurollen u. s. w. Es ist bekannt genug, wie allent-
halben gerade gegen die ausgestellte Grundforderung gesündigt wird,
während doch ohne Befolgung derselben eine gesunde Entwicklung
der bildenden Kunst, zu welcher ich an dieser Stelle das Kunst-
gewerbe rechne, gar nicht möglich ist. Ich will hier aus dem Ge-
biete der sogenannten höheren Kunst unserer Tage ein Beispiel
herausgreifen, um zu zeigen, wie schwach der Sinn für die Eigen-
schaften des Materials ausgebildet ist. Fast durchgängig führen
unsere Bildhauer die Modelle für eherne Statuen so aus, als
sollten sie in Stein gehauen werden; oder sie bleiben gar bei den
Eigenschaften des Gipses stehen und verlieren die Eigenschaften des
Metalles, welche doch bei der Herstellung des Modelles berücksichtigt
werden sollten, vollständig aus den Augen. Wie haben dagegen
die Alten die Eigenschaften des Materials berücksichtigt? Welchen
"Respekt zeigte Michel Angela Bnonarotti vor den Eigenschaften
des Marmors, von welchem er mit seiner gewohnten Künheit sogar
behauptete, die schöne Gestalt sei schon in ihm enthalten und harre
nur auf ihre Befreiung durch die Künstlerhand. Es ist eine auf
dem Gebiete der Culturgcschichte höchst merkwürdige Erscheinung
daß gerade das französische Volk, welches doch in seiner Revolution
am Entschiedensten und Durchgreifendsten mit der Vergangenheit
brach, dessenungeachtet im Ganzen und Großen den Zusammenhang
mit der kunstgewerblichen Technik der Vergangenheit festhielt, was
ihm bis auf den heutigen Tag einen Vorsprung gibt, während
sonst scheinbar coiiscrvativerc Völker wie die Deutschen gerade diesen
Zusammenhang verloren.
Jetzt gerathen die westeuropäischen Völker in einen wahren
Wettstreit auf kunstgewerblichem Gebiete. Fast noch staunenswerther
als der Aufschwung Oestreichs auf dem kunstgewerblichen Gebiete
ist der Aufschwung der Engländer, besonders deßhalb, weil man
ihnen die von der Natur mitgegebenen Anlagen für die Pflege der
Kunstindustrie absprach. Wie große Fortschritte haben sie aber
in kürzester Frist gemacht! Freilich packen sie die Sache gleich
naturgemäß an; in ihren Schulen setzen sie nicht das technische
Element auf die Seite, so daß in Bälde die technische Geschicklich-
keit und die künstlerische Formeugebung unzertrennlich zusammen-
wirken. Einem interressanten Bericht, welcher in den Mittheilungen
des österreichischen Museums steht, ist zu entnehmen, wie in Eng-
land der Sinn für die praktische Handthierung, wie der Sinn für
den Gebrauch der Werkzeuge schon in früher Jugend geweckt und
fort und fort so gepflegt wird, daß die in Fleisch und Blut über-
gegangene Freiheit der technischen Behandlung jener Freiheit und
Leichtigkeit, mit welcher eine künstlerische Form hingcworfen sein
soll, zu statten kommt. Der Verfasser des erwähnten Berichtes er-
zählt, er habe in einer Londoner Volksschule Wandtafeln mit
den Abbildungen der Werkzeuge der wichtigsten Gewerbe im Gebrauch
gefunden, und bei den noch im Kindesalter stehenden Knaben eine
Summe von technologischen Kenntnissen, um welche sie unsere ab-
München.
Zeitschrift
des
e w e r l> e - V e r e i n s.
Neunzehnter Jahrgang.
/Ts r 4* .
1869.
Petitzeile berechnet
Theodor Ackermann dahier wenden.
sich dieserhalb
Buchhandlung von
Die Lehre von der Schönheit und die Technik.
Bon Dr. Kichtnistein.
Unsere Zeit, welche als eine in vielfachster Beziehung unreife
und unfertige Uebergangszeit zu einer neuen Gestaltung des Lebens
auftritt, leidet durch ihre Unfertigkeit an einer ganzen Reihenfolge
von Widersprüchen. So steht mit der hohen Bildungsstufe, welche
die gegenwärtig lebende Generation im Vergleich mit den Bildungs-
stufen vergangener Jahrhunderte errungen zu haben glaubt, die
Thatsache in Widerspruch, daß unserem vorgeschrittenen neunzehnten
Jahrhundert viele Wahrheiten, welche sich früher ganz von selbst
verstanden, nur durch deren unermüdliche Wiederholung und Aus-
einandersetzung begreiflich gemacht werden können. Eine dieser Wahr-
heiten, welche Jahrtausende hindurch verwirklicht war, und nicht
erst bewiesen zu werden brauchte, welche aber in unseren Tagen
als eine nahezu verloren gegangene erst wieder entdeckt werden
mußte, ist die Wahrheit, daß das Handwerk seiner Natur und seiner
Bestimmung nach als Kunsthandwerk anslreten sollte. Es ist
bekannt, wie viele Mühe und Ausdauer es gekostet hat und noch
immer kostet, sowohl bei den Producenten wie bei dem kaufenden
Publikum mit wirklichem Erfolg die Wahrheit einzubürgern, daß
an unseren Kleidungsstücken und an unserem Hausrath die Zweck-
mäßigkeit der Form in wenn auch noch so einfache und anspruchs-
lose Schönheit übergehen sollte.
Allmählig wenn auch langsam genug wird nun diese Wahrheit
wieder zum Gemeingut der europäischen Culturvölker; aber hiemit
ist im Grunde nur wenig geleistet, wenn nicht zu gleicher Zeit
auf die eindringlichste Weise sowohl den Producenten wie dem
kaufenden Publikum der wichtige Satz als ein wahrer Grundsatz
eingeschärft wird, daß die schöne Form immer in genauestem Zu-
sammenhang mit der eigenthümlichen Behandlungsweise, welche das
Material, welche der Rohstoff verlangt, stehen müsse. Jedes Ma-
terial, jeder Rohstoff muß ja erst durch das Werkzeug der Werk-
zeuge, durch die menschliche Hand sowie durch andere verschieden
geformte Instrumente, welche die Kraft und Kunstfertigkeit der mensch-
lichen Hand verstärken und vervielfältigen, zubcreitct und gefügig
gemacht werden. Es geberdet sich wiederspcnstig und zwar jedes
Material wieder in anderer Weise und in verschiedenem Grade.
Während nun durch die mannichfaltigsten Werkzeuge und Hand-
thierungen sein Widerstand gebrochen und während es gefügig ge-
macht wird, die ihm von dem menschlichen Geist vorgezeichnete Form
anzunehmen, ist an ihm selbst ein natürliches Formenspiel zu beob-
achten , welches von den durch die Natur dem Material mitgegebenen
Eigenschaften herrührt. Mit diesem natürlichen Formenspiel, welches
dav Material während seiner technischen Behandlung zeigt, muß
der Schönheitssinn des Menschen in Verbindung treten, wenn er
nicht etwas Sinnwidriges und Stilwidriges schaffen will. Zu
jenem natürlichen Formenspiel gehört beispielsweise die Ziehbarkeit
und Dehnbarkeit eines Materials, die verschiedene Art sich zu spalten
und zu verästeln, sich zu verdünnen oder zu verdicke», sich zu drehen
und zusammenzurollen u. s. w. Es ist bekannt genug, wie allent-
halben gerade gegen die ausgestellte Grundforderung gesündigt wird,
während doch ohne Befolgung derselben eine gesunde Entwicklung
der bildenden Kunst, zu welcher ich an dieser Stelle das Kunst-
gewerbe rechne, gar nicht möglich ist. Ich will hier aus dem Ge-
biete der sogenannten höheren Kunst unserer Tage ein Beispiel
herausgreifen, um zu zeigen, wie schwach der Sinn für die Eigen-
schaften des Materials ausgebildet ist. Fast durchgängig führen
unsere Bildhauer die Modelle für eherne Statuen so aus, als
sollten sie in Stein gehauen werden; oder sie bleiben gar bei den
Eigenschaften des Gipses stehen und verlieren die Eigenschaften des
Metalles, welche doch bei der Herstellung des Modelles berücksichtigt
werden sollten, vollständig aus den Augen. Wie haben dagegen
die Alten die Eigenschaften des Materials berücksichtigt? Welchen
"Respekt zeigte Michel Angela Bnonarotti vor den Eigenschaften
des Marmors, von welchem er mit seiner gewohnten Künheit sogar
behauptete, die schöne Gestalt sei schon in ihm enthalten und harre
nur auf ihre Befreiung durch die Künstlerhand. Es ist eine auf
dem Gebiete der Culturgcschichte höchst merkwürdige Erscheinung
daß gerade das französische Volk, welches doch in seiner Revolution
am Entschiedensten und Durchgreifendsten mit der Vergangenheit
brach, dessenungeachtet im Ganzen und Großen den Zusammenhang
mit der kunstgewerblichen Technik der Vergangenheit festhielt, was
ihm bis auf den heutigen Tag einen Vorsprung gibt, während
sonst scheinbar coiiscrvativerc Völker wie die Deutschen gerade diesen
Zusammenhang verloren.
Jetzt gerathen die westeuropäischen Völker in einen wahren
Wettstreit auf kunstgewerblichem Gebiete. Fast noch staunenswerther
als der Aufschwung Oestreichs auf dem kunstgewerblichen Gebiete
ist der Aufschwung der Engländer, besonders deßhalb, weil man
ihnen die von der Natur mitgegebenen Anlagen für die Pflege der
Kunstindustrie absprach. Wie große Fortschritte haben sie aber
in kürzester Frist gemacht! Freilich packen sie die Sache gleich
naturgemäß an; in ihren Schulen setzen sie nicht das technische
Element auf die Seite, so daß in Bälde die technische Geschicklich-
keit und die künstlerische Formeugebung unzertrennlich zusammen-
wirken. Einem interressanten Bericht, welcher in den Mittheilungen
des österreichischen Museums steht, ist zu entnehmen, wie in Eng-
land der Sinn für die praktische Handthierung, wie der Sinn für
den Gebrauch der Werkzeuge schon in früher Jugend geweckt und
fort und fort so gepflegt wird, daß die in Fleisch und Blut über-
gegangene Freiheit der technischen Behandlung jener Freiheit und
Leichtigkeit, mit welcher eine künstlerische Form hingcworfen sein
soll, zu statten kommt. Der Verfasser des erwähnten Berichtes er-
zählt, er habe in einer Londoner Volksschule Wandtafeln mit
den Abbildungen der Werkzeuge der wichtigsten Gewerbe im Gebrauch
gefunden, und bei den noch im Kindesalter stehenden Knaben eine
Summe von technologischen Kenntnissen, um welche sie unsere ab-