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Zeitschrift des Kunst-Gewerbe-Vereins zu München — 26.1877

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Schmädel, Josef von: Ueber den Einfluß der Kunst und des Kunsthandwerks auf die Erziehung der Phantasie, [1]: Vortrag gehalten am 29. Januar 1877 im Kunstgewerbeverein Münchens von J. v. Schmaedel, Architekt
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https://doi.org/10.11588/diglit.6908#0033

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Ich habe vor mehreren Jahren schon an diesem Platze meinem damaligen vortrage über
„Idealismus und Realismus in der Kunst" eine Basis zu Grunde gelegt, deren ich auch heute
wieder bedarf, um meinen Betrachtungen Klarheit zu verleihen und die richtige Entwicklung
zu geben.

Ich habe damals hervorgehoben, daß sowohl der verstand, wie die Phantasie, diese beiden
Erscheinungsweisen der menschlichen Geistesthätigkeit, ihre sie unterscheidende Eharakteristik in
der Art der Gedankenverbindung, in der Gedankenassoziation finden. Ich zeigte, wie der exakte
Gedankengang uns in das Reich des Verstandes zum Verstandesmenschen, die unwillkürliche
Gedankenverbindung aber in das Reich der Phantasie zum Phantasiemenschen führe.

Die unwillkürliche Gedankenverbindung, die Grundlage der Phantasie, kennt zwischen zwei
Gedankenobjekten keine Bindernisse. Unendlich viele Verbindungswege stehen ihr offen, um von
einem zum andern zu gelangen — ihre Bewegung ist ungehemmt und ohne Grenzen. Der exakte
Gedankengang dagegen, die Aeußerung des Verstandes, geht hervor aus dem Faktum, aus der
zweifellosen Möglichkeit und ist daher begrenzt durch die Gesetze des Existirenden, des vorhandenen,
durch die Grenzen des absolut Beweisbaren.

Möge ein kleines Beispiel meinen Morten Klarheit verleihen. Ich gebe einmal meinem
verstände und einmal meiner Phantasie ein und dasselbe Gedankenobjekt, um daran den jeweiligen
Gedankengang zu knüpfen, z. B. die „(Quelle". Eie betrachtend sagt der verstand: dieselbe ist der
Abzugskanal eines unterirdischen Reservoirs. Ihre Bestandtheile sind bedingt von der jeweiligen
chemischen Beschaffenheit der von der Abzugsflüssigkeit berührten Erd- oder Gesteinsschichten. Ihre
Mächtigkeit ist abhängig von den zu Grunde liegenden mechanischen und phxsikalischen Momenten
u. s. w. Kurz der Gedankengang des Verstandes, welcher sich an dieses Objekt anschließt, berührt
lediglich nur Dinge, die absolut greifbar sind und in unmittelbarem und logisch nachweisbaren
Zusammenhänge mit dem Objekte selbst stehen. Die Anzahl der Verbindungswege, welche zu
anderen Gedankenobjekten führen, ist daher eine begrenzte und die Freiheit der Gedankenassoziation
des Verstandes eine beschränkte.

Nehmen wir nun dasselbe Objekt und übermitteln wir es der Phantasie, wie wunderbar
hat da z. B. Echwind in seiner schönen Melusine „die Ouelle" in Verbindung gebracht mit
Menschenfreud und Menschenleid, wie sinnig führt er uns fort von ihr zu seliger Lust und Freude,
wie greift er tief in die Eaiten unseres Herzens durch das hereinbrechende Leid, durch den weh-
müthigen Echmerz der Reue, und wie sinnig führt er uns wieder zurück zum einsamen Brunnen,
zur einfachen Ouelle, von der all' seine Gedanken ausgingen und in der sich alle wieder vereinigen.
Nie und nimmermehr wäre dies dem verstände möglich gewesen! Gibt es denn Nixen, deren
Gestalt in einem Fischschweif endigt? Ist es denn nicht ganz undenkbar — schon dieses Wort
weist uns hier auf die Grenzpfähle des Verstandes — daß ein solches Ljalbwesen allwöchentlichen
Wandlungen unterliegt, die dasselbe zur vollen Menschengestalt werden lassen? Der Verstand sagt
„nein" und schneidet damit die Möglichkeit dieser Gedankenverbindung ab.

Und trotz alledem ist dieses eine Beispiel des Gedankenganges der Phantasie nur eines von
den unendlich vielen, welche dem Gebiete derselben für dieses Objekt zu Gebote stehen.

Eie kennt in der Verbindung zweier Gedankenobjekte keine Grenzen und für sie ist selbst
das anscheinend Unmögliche kein Binderniß. Beide Erscheinungen der menschlichen Geistesthätigkeit,
der verstand wie die Phantasie, sind also, obwohl mit einer und derselben Bedingung — der
Gedankenassoziation — verwachsen, dennoch grundverschieden in ihren Resultaten.

Eie sind aber auch, eben weil sie ein und derselben Bedingung entsprungen sind, trotz ihrer
Verschiedenheit eng mit einander verbunden und mehr oder weniger unzertrennbar.

Die Phantasie ohne verstand würde zum Wahnsinn führen, der verstand ohne Phantasie
zur trostlosesten Eterilität und schließlich zur Verzweiflung.

Jedenfalls ist schon aus dem wenigen bisher Gesagten klar und deutlich zu ersehen, daß
nicht der verstand allein der höchste Besitz des Menschen ist.

Die Phantasie waltet in ihm, wie der Verstand, und gerade sie ist es, die in Verbindung
 
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