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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 4.1906

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Watts, George F.: Was soll uns ein Bild sagen?
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https://doi.org/10.11588/diglit.4390#0022

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stets bestehen bleibt und diese grosse Harmonie den
Sieg davonträgt, ja jene kleineren Kontraste diesen
Sieg nur noch verstärken. Der Sinn des Beschauers
ist nicht an sie festgenagelt, wie er es etwa ist, wenn
starke Kontraste in der Ausschmückung eines
Mädchenhutes verwandt wurden. ("Denn d

l1

ler

Kontrast in den Farben des Mädchenhuts bleibt.^)

G. F. WATTS, SELBSTPORTRÄT

Wahrheit sollte man in einem Bilde suchen.
Aber man sollte sich vorher fragen, was man unter
dieser „Wahrheit" versteht, und anders wie Pilatus
sollte man zur Beantwortung dieser Frage die nötige
Zeit gewähren. Denn Wahrheiten giebt es verschie-
dener Art. Wahrheit in einem Stilleben ist nicht
das Gleiche wie Wahrheit in einem Ideenbild. Ein
solches stellt vielleicht keine einzige Einzelheit genau
dar und kann deshalb doch „wahr" sein, ja kann
eine grössere Wahrheit vermitteln als das Bild, das

in all seinen Formen ohne Tadel und so genau wie
die Wissenschaft selbst ist. Ich entsinne mich einer
Dame, die einst mit mir über Religion sprach: „Da
giebt es nur eine Wahrheit". „Sicherlich," erwiderte
ich ihr, „da giebt es nur eine Wahrheit. Es giebt
auch nur eine Sonne, aber Sie haben doch eine ganze
Anzahl von Fenstern in Ihrem Hause, und die Sonne
kommt und scheint hinein in
diese vom Osten, vom Westen
und vom Süden, aber niemals
vomNorden. Allerdings es giebt
in Wirklichkeit nur eine Wahr-
heit, aber es ist ein Irrtum, nur
einen Vertreter derselben zulassen
zu wollen." —Es ist sehr schwer
mit leicht verständlichen Worten
den Unterschied zwischen
„Wahrheit" und „Wirklichkeit"
auszudrücken. Man könnte
sagen, dass es eine Wahrheit giebt,
die sich auf die materiellen
Dinge bezieht, und eine Wahr-
heit, die mit Ideen und hohen
Gedanken zusammenhängt. Der
Psalm ist spricht die Wahrheit,
wenn er sagt: „die kleinen Hügel
schlugen die Hände zusammen"
oder:„dieMorgensternesangen".
Die Hügel haben keine Hände
und die Sterne keine Kehlen, aber
der Psalmist hat es vermocht,uns
durch seine Worte glauben zu
lassen, dass die Natur frohlocke
und jauchze. Niemand wird da-
durch getäuscht oder betrogen,
wie es durch eine Lüge geschähe.
Das ist die Wahrheit, die durch
das Fenster gen Osten oder Westen
hereindringt.

Der Photograph stellt die
materielle Wahrheit dar, wie das
in gleicher Weise kein Maler thun könnte. Seine
Wahrheitswiedergabe schlägt selbst die grössten
unter den toten wie lebenden Künstlern. Und doch:
Ist sein Gegenstand zwanzig Meter vom Apparat
entfernt, so ist die sich ergebende „materielle Wahr-
heit" schon eine andere, als wenn er dicht vor der
Linse sich befände. Welches also ist hier die „Wahr-
heit"? Beides; und gar noch eine andere „Wahr-
heit" giebt es: die, die durch das Mikroskop gefunden
wird.

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