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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 4.1906

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Stengel, Walter: Eine Freilicht-Prophezeihung
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EINE FREILICHT-PROPHEZEIUNG

VON

WALTER STENGEL

„Es war am letzten Tage der berühmten Leih-
ausstellung von alten Holländern und Vlamen.
Ich blieb bis zur Dämmerung und Hess den feier-
lichen Gesamteindruck noch einmal auf mich wir-
ken. „Wie doch der Ruhm der alten Meister
dauert!" dachte ich bei mir selbst, als ich so über
die Bilderwände blickte. „Ob es nicht eine stolze
Genugthuung sein müsste für die Geister dieser
Grossen, wenn sie sähen wie man noch immer nichts
thut als sie bewundert?"

Sprach ich diesen Gedanken laut aus — ich
weiss es nicht. Jedenfalls aber hörte ich alsbald
dicht neben mir eine Stimme sagen: „Allerdings!"
Ich drehte mich um und sah eine Hünengestalt, in
schwarzem, pelzverbrämtem Seidenmantel, vor dem
Gemälde stehen, das den „Prediger Anslo mit einer
Witwe" darstellt. Es war Rembrandt selbst, um-
geben von einer Gruppe anderer Gestalten, die ich
sogleich als die vornehmsten der in der Ausstellung
vertretenen Meister erkannte.

Die wenigen Besucher, die sich noch in den
Sälen aufhielten hatten die Erscheinung ebenfalls
bemerkt. Ich sah wie ein Herr vor der schwarzen
Gestalt in die Knie fiel und ihr Gewand zu fassen
suchte. Dabei rief er: „Erhabner Geist, lass mich
kommen in das Dunkel, das dich umgiebt! —
Doch — welch sterbliches Auge hat die Kraft, ein-
zudringen in des Abgrunds Tiefe, die dein Genius
erfüllt, oder auch nur einen Schimmer wahrzu-
nehmen von jener geheimnisvollen Welt, welche
mystisches Dunkel allein erleuchtet!"*

* „Man nennt gern Rembrandt, um die Dunkelmalerei zu
entschuldigen, den Rembrandt, der aus Gelb und Rot das Dunkel

Diese Worte wurden plötzlich unterbrochen
durch ein homerisches Gelächter der ganzen Geister-
schar, das schier kein Ende nehmen wollte. Rem-
brandt schien recht herzlich daran teilzunehmen
und lachte ganz laut, als der Kenner sich zurück-
zog und die Treppe hinabeilte.

Die Gruppe löste sich nun auf, und wie die
Geister durch die Säle huschten beobachtete ich in
Sonderheit das ungezwungene Gehaben und die
heitere Miene von Teniers, der seine eigenen Bilder
aufsuchte und zuletzt vor Nr. 102 stehen blieb.
Ein junger Herr trat gerade heran und sah mit ihm
auf das Bild. Teniers drehte sich plötzlich um:
„Was halten Sie von diesem Gemälde?"

„Ich denke," sagte der Kunstfreund, „dass es
viel von der Laune und echten Art unseres Ho-
garth hat."

„Viel Ehre!" gab der Geist zurück. „Doch
sagt mir bitte, wo die Fehler sind."

Der Kunstfreund erwiderte: „Es wäre verwegen
und brächte mir wenig Dank, wenn ich danach
fragen wollte, was in diesen Meisterwerken unvoll-
kommen ist, die mir stets als das Beste, Höchste
galten, ja deren Schönheit mich zuerst mit Liebe
zu der Kunst erfüllte."

Da hörte ich Teniers sagen: „Schmeichelei,
mein Freund, ist zu leichte Kost, auch für Geister.
Glaubt mir: der schöne Quell unsrer Seligkeit in
diesem Leben nach dem Tode (das in eure Welt
jenen Schatten wirft, den ihr Leben nennt) ist die
Gabe, der Irrungen unseres früheren Daseins

gewann, dessen Finsternis wie glühende Kolüenspitzen, auf
denen alle Oxyde spielen, die Augen wärmt." (Meier-Gräfe).

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