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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 4.1906

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Walser, Robert: Leben eines Dichters: Wandverzierungen von Karl Walser
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https://doi.org/10.11588/diglit.4390#0065

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zu leben. Bisweilen, wenn er an die Wirklichkeit
denkt, lächelt er schmerzlich. Seine Eltern schrei-
ben ihm auf seine Bitten, ihm Geld zu senden,
nicht mehr. Um ihn herum wird es elender und
trostloser, aber er bemerkt es kaum. Sein ärmliches
Heim ist reich wie kein fürstliches Zimmer: es
umschliesst seine herrlichen Träume, mit denen er
Abends sich niederlegt und Morgens erwacht. Nur
wenn ihn der nackte, schamlose Hunger hinaustreibt,
geht er unter die Menschen, deren Thun in seiner Ab-
getrenntheitihm unbegreiflich vorkommt. Er emp-
findet keine Demütigung, oder nur in Momenten, wo
er nicht schafft. Seine Manusktripte werden von den
Verlegern zurückgeschickt. Er gewöhnt sich bald
daran, das begreiflich zu finden. Sein Bett, sein Tisch,
seine Lampe werden ihm lieb. Er hat das unabwend-
bare Gefühl des baldigen Todes und zerarbeitet seine
Kräfte rücksichtslos. Seine Kleider, die guten, ver-
tauscht er gegen abgeschabte und abgetragene, um
etwas Geld heraus zu bekommen. Er arbeitet in
einem langen, gelben Rock, den ein Reitknecht
kann getragen haben. An der schimmeligen, feuchten
Wand hängt sein Hut und sein anderer Rock. Auf
dem Ofen stehen Waschkanne und Waschbecken.

Der Boden ist voll Manuskripte. Ein fertiges Drama
guckt dem Schreibenden und Dichtenden zur Seiten-
tasche heraus: es ist wohl eben abgelehnt worden.
Das Bett, ein langes, dünnes Ding, steht in einer
Ecke, und zu dem Fenster hinaus sieht man die
Dächer der Stadt emporragen. Der Dichter schreibt
entweder, oder er liegt ausgestreckt auf dem Bett
und erwartet das Ende. Nach seinem Tode findet
man seine Werke schön und wert, sie im Druck zu
verbreiten. Frauen lesen sie mit Entzücken und
manches junge Mädchen weint über dieses Dichters
Leben. Er indessen weilt jetzt in jenen Gegenden,
wo nur Geister hingelangen, die unsterbliche Werke
geschaffen haben. Die Dachkammer, wo er zuletzt
gehaust hat, wird ängstlich wie ein Heiligtum be-
hütet und es wird dafür gesorgt, dass alles so liegen
und hängen bleibt, wie man es fand, als man das
Zimmer des Toten betrat. Der reitledergelbe Ueber-
zieher hängt dort neben anderen Sachen an einem
Nagel und man hofft immer noch, dass sich irgendv
wie versteckte Manuskripte darin vorfinden werden.
Vielleicht, wenn man ihn über die Stange hängt
und tüchtig klopft, fallen einige heraus, wer
weiss! —

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