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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 4.1906

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Hannover, Emil: Gustave Courbet, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4390#0079

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liegt: der Allegorie. Aber nichts destoweniger war
die grösste und am meisten Aufsehen erregende
Arbeit seiner ganzen Ausstellung im Jahre 1855
gerade ein solches Mittelding zwischen einer Vision
und einer Konstruktion. Courbet gab dem Bilde
den absurden Titel „allegorie reelle". Mit dem
Wörtchen reel verband er offenbar die Absicht,
sich mit seinem realistischen Gewissen abzufinden,
das er in einem Halbschlummer eingelullt hatte,
während er dieses merkwürdige Bild malte.

Interieur de mon atelier, determinant une phase
de sept annees de ma vie*, mit diesen Worten
versuchte der Katalog den Inhalt des Bildes näher
zu erklären. Courbet hat in ihm einen Begriff von
seiner ganzen Wirksamkeit, seinem Leben und seinen
Ideen geben wollen, und er hat zu diesem Zweck
seine Modelle, seine Freunde und lebende und tote
Sinnbilder seiner Liebe und seines Hasses auf der
Leinwand versammelt. In der Mitte der Bilder sitzt
er selbst vor seiner Staffelei. Er hat sich nicht ge-
malt wie er gewöhnlich dort sass, in Hemdsärmeln,
schwitzend und mit seiner kurzen Pfeife im Mund-
winkel. Er hat sich in einem eleganten Anzug und
in einer flotten und übermütigen Haltung gemalt.
Mit Aufmerksamkeit wird seine Arbeit von einem
stehenden nackten Weibe verfolgt, das wohl gleich-
zeitig das Modell und die nackte Wahrheit bedeuten
soll. Der kleine Knabe, der von der anderen Seite
das Gemälde betrachtet, scheint die kindliche, die
ursprüngliche Beobachtung bedeuten zu sollen. Ein
Herr und eine Dame, die im Vordergrunde pro-
menieren, sind Repräsentanten des neugierigen und
flüchtig vorübergehenden Publikums der Kunst.
Ganz rechts sieht man den Dichter Baudelaire lesend.
Champfleury sitzt in die Betrachtung des Kunst-
werkes verloren. Herr Bruyas und ein anderer von
Courbets Gönnern haben die Erlaubnis erhalten,
ihren Protege von einem bescheideneren Platz im
Hintergrunde aus zu bewundern, in der Nähe eines
zärtlichen Paares, das die Zeitgenossen für Ver-
treter der freien Liebe hielten. Auf der anderen
Seite der Staffelei sieht es noch bunter aus. Hier
hat Courbet eine Galerie der Typen gesammelt,

* Es gehörte 1898 einem reichen Privatmann, Herrn
Desfosses in Paris, der in seinem mehr üppigen als künstlerisch
ansprechenden Hotel in der Rue Galilee sich einen Privat-
Theatersaal hatte bauen lassen, dessen Bühne Courbets Bild
als Vorhang diente. Die Idee war sicherlich nicht geschmack-
voll. Scheinbar war jedoch keine Gefahr für das Bild damit
verbunden. Es wurde nicht aufgerollt, wenn auf der Bühne ge-
spielt wurde, sondern ging glatt in die Höhe. Vor einiger
Zeit ist Herr Desfosses gestorben und Courbets Bild auf dem
Wege der Auktion verkauft worden. Der Name des neuen
Besitzers ist dem Verfasser unbekannt.

die er bis dahin in seiner Kunst behandelt hatte.
Kurios genug, hat er, der Sozialist, diese einfachen
Leute von den feineren Leuten auf der anderen
Seite des Bildes hübsch abgesondert. Die einzige
bessere Person, die er boshaft genug gewesen ist,
unter den Pöbel zu mischen, ist ein Priester. Er
selbst sitzt, durch seine Leinwand wohl verschanzt
gegen den Anblick der traurigen Versammlung,
und sein Pinsel beschäftigt sich auch nicht mit ihr,
sondern mit einer Landschaft. An die Staffelei ge-
lehnt liegt ein armes, halbnacktes Weib mit ihrem
Kinde an der Brust. Sie und ein müssiggehender
Arbeiter repräsentieren das hässlichste Proletariat
der Grossstadt. Die mühselige Arbeit in der Natur
wird durch einen müden Jäger mit seinem Hunde,
einen Schnitter und einen Erdarbeiter veranschau-
licht. Man sieht ausserdem einen Juden, einen
Handelsmann, der alte Kleider feilbietet, einen
Leichenträger und mehrere weniger deutlich cha-
rakterisierte Figuren, sowie einen Mannequin in
der Stellung eines gekreuzigten Christus. Der breit-
randige Hut sowie der Degen auf dem Fussboden
sind Symbole der Romantik, die in den Staub ge-
worfen ist. Der Totenschädel, der auf einer No.
des „Journal des debats" liegt, des Blattes, das
Courbet am stärksten angriff, illustriert Proudhons
berühmtes Wort, dass „die Zeitungen Kirchhöfe
der Ideen sind".

Wie man sieht ist es eine phantastisch geord-
nete oder ungeordnete Komposition. Ihre Unord-
nung macht sich jedoch nur bemerkbar, wenn man
den Versuch machen will, den verwirrten Gedanken
der Bilder durchzudenken; rein malerisch betrach-
tet, ist die Komposition von vollkommen harmo-
nischer Wirkung. In malerischer Hinsicht ist „das
Atelier" überhaupt eins der schönsten Bilder
der Welt. Es hat, wie soviel andere von Courbets
Figurenbildern, etwas Spanisches in seinem Kolorit,
dessen gesammelter brauner Ton aus lauter warmen
aber nicht im geringsten trockenen Farben zusam-
mengesetzt ist. Es ist stark dramatisch in der Wir-
kung zwischen Licht und Schatten. Die Dunkel-
heit, die über dem grössten Teil des Bildes liegt,
verzieht sich gleichmässig nach der Mitte zu. Sie
weicht schon vor dem Manne der Wahrheit, Cour-
bet; sie flüchtet ganz vor dem Sinnbild der Wahr-
heit, dem nackten Weib an seiner Seite. In ihrer
Gestalt kulminiert das Licht im Bilde; in der Aus-
führung dieser Gestalt kulminiert auch das sprühende
Leben, die unvergleichliche Meisterschaft, womit
der Pinsel von einem Ende dieser kolossalen Lein-

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