Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 4.1906

DOI Artikel:
Haberfeld, Hugo: Religiöse Kunst in der Wiener Secession
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.4390#0172

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
eine kultische und eine individuelle Epoche. In
den ersten zwölf Jahrhunderten seiner Geschichte
war das Christentum wirklich der einzige Lebens-
inhalt, ein immer als vorhanden Gefühltes, zu
Thaten und Gedanken automatisch in Beziehung
Gebrachtes, etwas allen so Selbstverständliches, dass
man von ihm wie von der Luft, die man atmet,
nicht erst redete. Dieser Verfassung des Geistes ent-
sprach die einfache Gewalt des romanischen Bau-
stils und die strahlende Unnahbarkeit der Mosaiken,
eine Raumkunst, die nur in suggestiven Formeln
auszudrücken brauchte, was Dasein und Wirken
der Gesamtheit erfüllte. Und so wenig der ein-
zelne Mensch in der sozialen Gliederung jener
kollektiv empfindenden Zeit, so wenig bedeutete
der einzelne Künstlerwille für diese Kunst. Mit
der unpersönlichsten Technik, überlieferten Formen
und Farben, auf Grund einer mystischen Mathe-
matik bildete sie die strengen Gestalten einer
durchaus übersinnlichen Welt, zu der von der ver-
fehmten Erde keine Brücke, nur die schwankende
der Verzückung führte. Sie neigte sich nicht tröstend
dem einsamen Beter. Ein von Geheimnissen und
Glorie umwittertes Symbol der ecclesia triumphans
hielt sie mit ihrem kalten Glänze die aufgeschreckte
Massenseele der Gemeinde in herrischem Bann.
Franziskus von Assisi, der selige und süsse

Schwärmer, lockert mit seinem glühenden Herzen
die starren Umklammerungen und bringt eine neue
Empfindung des Christentums: die Verbindung
persönlichsten Geschickes mit der heiligen Ge-
schichte. In der Kunst vollzieht sich eine Wand-
lung: der anonymen folgt die individuellste Kunst-
übung. Das Individuum der Renaissance löst sich
aus der nivellierenden Enge des sozialen Verbandes,
die Malerei aus dem uralten Zusammenhang der
Künste, und der Maler der Tafelbilder betrachtet
es nicht mehr als seinen Beruf, in der Tradition
restlos aufzugehen, sondern der Ueberlieferung
seine eigene Form zu geben. Eine Madonna de
Fra Filippo Lippi war nicht mehr das seit des
Evangelisten Lukas Zeiten unverrückbar fest-
stehende Porträt der Gottesmutter, sondern eben
Filippo Lippis Madonna, seines Erlebens und seiner
Hände Werk, anders als die eines zweiten Floren-
tiners und von der eines Kölners oder Genters wie
die Städte selbst und ihre Frauen verschieden.
Christus wurde den Künstlern noch zum Erlöser,
aber als Orgelpunkt ihrer Weltanschauung, als
Sinnbild eigenen Leids. Er trug auf seinen schlan-
ken Schultern nicht mehr die Last der Sünden, son-
dern die Melancholie Dürerscher Tiefen, das Pathos
michelangelesker Höhen, den Gram Rembrandtscher
Einsamkeiten. Und die bunten Scenerien der bei-

MAURICE DENIS, ANBETUNG

l65
 
Annotationen