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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 4.1906

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Pauli, Gustav: Natur und Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.4390#0376

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Aussenwelt und folgte damit dem populären Sprach-
gebrauche; redet doch selbst Schopenhauer von der
uninteressierten Versunkenheit des ästhetischen Zu-
standes, bei welchem die Bleigewichte der Selbst-
sucht, die das Uhrwerk unseres Alltagslebens regu-
lieren, einmal ausgehenkt sind. „Wir feiern den
Sabbat der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad
des Exio steht still." Dennoch verführte auch ihn die
Anschaulichkeit des metaphorischen Bildes zur Un-
genauigkeit des Denkens. Nicht um ein Sichver-
lieren handelt es sich, vielmehr um ein Sichein-
verleiben, nicht um ein Preisgeben, sondern um
eine Besitzergreifung. Und wenn dabei auch die
gröberen Formen des Egoismus ausser Spiel bleiben,
so ist der ästhetische Beschauer doch keineswegs im
höheren und feineren Sinne uninteressiert. Der
Franzose hat es wohl geahnt, der im Genüsse des
Kunstwerks une promesse de bonheur erblickte.

Der „gesunde Menschenverstand", der immer
geharnischt auf den Platz tritt wenn es gilt,
mit alten Trivialitäten eine junge Wahrheit zu
erschlagen, verficht hartnäckig die ewige Ab-
hängigkeit der Kunst von der Natur. Er be-
ruft sich dabei auf das Kind, das im Bilde zu-
allererst nach dem Dargestellten fragt und sich an
seiner Deutung erfreut. Ebensogut könnte er auf
jeden naiven Menschen verweisen. Ja, sogar die
Geschichte glaubt der gesunde Menschenverstand
als Zeugen und Eideshelfer aufrufen zu können.
Und in der Tat giebt sie ihm scheinbar recht.

Wenn es ein Evangelium der Kunst gäbe, so
dürfte es mit den Worten beginnen: Im Anfang
war der Rhythmus und der Rhythmus war im
Ornament und das Ornament war der Rhythmus.
Dann aber kam die Nachbildung der Natur. Der
Künstler näherte sich ihr zaghaft, um Dinge zu
bilden, die ihm ein Gleichnis sein sollten jener
Geschöpfe, die seine Gedankenkreise erfüllten. So
schuf er Bilder der Haustiere, seines Weibes, seiner
Genossen und Knechte. Aber bald wurden die
Bilder wieder zum Ornament. Und so ging und
geht es im endlosen Wechsel der Kunstformen
weiter. Eine stilisierte Art der Darstellung mit
ausgesprochen dekorativen Absichten wird abgelöst
von liebevoller Nachahmung der Natur bis auch
diese wieder zum Ornament erstarrt. Die letzten
Phasen dieses Entwickelungsprozesses haben wir ja
selbst erlebt. Überblicken wir aber rückschauend,
soweit das Auge reicht, den bisherigen Verlauf, so
bemerken wir, wie die Naturnachahmung deutlich
fortschreitet, während das Vermögen einer dekora-

tiven Darstellung sich so wenig hebt, dass es als
stationär erscheinen mag. Unsere Pleinairisten sind
fraglos sämtlichen früheren Malern darin über-
legen, dass sie in der Natur neue ästhetische Werte
entdeckt haben. Ihnen zur Seite hat Rodin das
Leben mit innigerem Griffe gepackt als irgend ein
Bildhauer vor ihm. Er hat Nuancen von Flächen
gesehen, die nie zuvor gesehen waren. Aber
haben unsere Meister eines hohen Stils wirklich
neue dekorative Werte geschaffen? — Haben die
Umrisse eines Hildebrand oder Maillol vor den
tausendjährigen Bildwerken des Nilthals etwas
wesentliches voraus? oder schmücken die Malereien
eines Puvis, eines Hodler, die Wände besser als die
ravennatischen Mosaiken?

Es liegt also thatsächlich nahe genug, aus der
historischen Entwickelung als das einzige greifbare
Gesetz für den Fortschritt der Kunst jenes heraus-
zulesen, das in der Annäherung der Kunst an die
Natur besteht. Der unschuldige rotwangige Opti-
mismus empfängt dankbar ein neues Argument als
Wirkung der heimlich gehegten Ueberzeugung, dass
wir es herrlich weit gebracht haben — einstweilen
wenigstens — mit der erhebenden Aussicht vor
uns, in Zukunft immer weiter sternenwärts uns zu
entwickeln.

Ein so tröstlicher Glaube, dem in seiner sänf-
tigenden Wirkung ein Anflug von Religion bei-
wohnt, hat seine beredtesten Prediger unter denen
gefunden, die als die eigentlich berufenen Sach-
verständigen gelten müssten, unter den Künstlern
selber. Immer wieder, wenn eine naturnach-
ahmende Kunst zur Herrschaft gelangt, werfen sie
ihre drastisch formulierten Schlagworte in die
Debatte. Aus grauer Vorzeit klingt zu uns das
Atelierhistörchen herüber vom Weltstreit des Zeuxis
mit Parrhasios, von denen der eine seine Früchte
so natürlich malte, dass er die Vögel damit täuschte,
während der andre mit seinem gemalten Vorhang
sogar die intelligenten Menschen betrog. Erstaun-
lich ist es, dass sogar ein Vertreter der regelstolzen
und naturfremden Spätrenaissance wie Vasari,
wenigstens in der Theorie, immer wieder die Vor-
züge eines Bildes an seiner Naturwahrheit misst.
Einmal sagt er es geradezu, dass die Malerei in
nichts anderem bestände als in einem lebendigen
Abbilden der Natur. In deutlicher Erinnerung
sind uns noch die Rodomontaden, welche Courbet
über die wahre Wahrheit seiner Kunst zum besten
gab. Nun mag man ja den Künstlern, die selten
Meister der Rede sind und sich noch seltener auf

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