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Bayerischer Kunstgewerbe-Verein [Hrsg.]
Kunst und Handwerk: Zeitschrift für Kunstgewerbe und Kunsthandwerk seit 1851 — 49.1898-1899

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Streiter, R.: Moderne Kunstbestrebungen in Wien
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https://doi.org/10.11588/diglit.7000#0184

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Moderne Kunstbestrebungen in Wien.

239. Schmiedeiserner Mandarin mit Laterne. Entwurf von ksans Friede!,
Ausführung von R. Kirsch, München. (1/10 der wirft. Größe.)

werdende einheimische Leistungen ersetzt werden möge.
Die Anfänge dazu sind ja bereits gemacht, wie die
jüngsten Ausstellungen im Museum für Aunst und
Industrie und in: Neubau der Sezession beweisen.
Doch kann der Aenner der Wiener Verhältnisse
eures begründeten Mißtrauens sich nicht entschlagen.
Vorerst machen die Erzeugnisse des modernen Aunst-
gewerbes in Wien noch ganz den Eindruck von
Treibhauszucht. Die von auswärts eingeführte Pflanze
hat im heimischen Boden noch nicht Wurzel gefaßt.
Wird sie es überhaupt thun? Jedenfalls ist der
Boden für sie in Wien weit ungünstiger, weit
weniger bereitet als anderswo, als z. B. in einigen
Aunstzentren Deutschlands. Merkwürdig! Gerade
hierüber, über das Verhältniß des Wesens, der
Wachsthuntsbedingungen der neuen Pflanze zu der
Beschaffenheit des Bodens, aus welchem und in
welchen sie versetzt werden soll, scheint man sich in
Wien nicht im Mindesten Gedanken zu machen. Und
doch müßte hierauf die Pauptsorge gerichtet sein!

Die neue Bewegung in der angewandten Aunst
ging aus und wird in erster Linie getragen von
den Völkern germanischer Rasse. England, Amerika,
polland, Dänemark, Deutschland sind die Länder, in
denen die auf künstlerische Veredlung inoderner häus-
licher Lebensführung gerichteten Bestrebungen die
weiteste Ausdehnung und die tiefgehendsten Wir-
kungen gewannen.*) Die Erscheinung erklärt sich
dadurch, daß der Schwerpunkt des europäischen
Aunstlebens, ja der europäischen Aultur über-

*) Frankreich steht hierin unter ausländischem (englisch-
niederländischem Einfluß). Es ist kein Zufall, daß S. Bing,
der Gründer der Ausstellung von L’art nouveau tu Paris,
Deutscher, der von Bing vielbeschäftigte bs. van de Oelde Nieder-
länder ist.

Haupt im Verlaufe unseres Jahr-
hunderts vom Süden nach dem
Norden sich verschob, und daß die
nordischen Völker von jeher zu einer
traulichen, intim-behaglichen Aus-
stattung ihrer Wohnräume mehr hin-
neigten als die Südländer, deren Leben
sich mehr außer dem Pause abspielt,
und deren Aunst — speziell im Palast-
und Villenbau — einen mehr nach
außen gerichteten, repräsentativen Zug
aufweist. Der nordisch-germanische
Aunstgeist tritt denn auch in der
modernen Richtung der angewandten
Aunst deutlich genug hervor. Das
englische und amerikanische Familien-
haus ist in seiner typischen Anlage
durchaus nordisch. Der Grundplan
zeigt im schärfsten Gegensatz zu einer „akademischen"
Grundrißlösung eine völlig freie, nur den Rücksichten
aus Zweckmäßigkeit und Bequemlichkeit folgende
Aneinanderreihung der Räume. Der Aufbau ist
dementsprechend malerisch gruppirt; das hohe nor-

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