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Bayerischer Kunstgewerbe-Verein [Hrsg.]
Kunst und Handwerk: Zeitschrift für Kunstgewerbe und Kunsthandwerk seit 1851 — 49.1898-1899

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Muthesius, Thomas: Englische und kontinentale Nutzkunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.7000#0349

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Englische und kontinentale Nutzkunst.

48(. Fcnstervorsetzer aus Seide von Theodora Gnasch,
Lharlottenburg.

die auf Morris Schultern standen, wurden sie völlig
frei und unabhängig entwickelt.

Doch kam damals schon dieser ganzen Bewegung
der große Zufluß an vorgebildeten Aräften zu gute,
die die South Aensington - Schulen erzeugten. Diese
Schulen eigneten sich schon früh einen Vortheil an,
der den unsrigen fast bis auf die jüngste Zeit ver-
sagt geblieben ist, es war die Heranbildung der
Zeichenschüler an den Naturformen statt am historischen
Ornamente. Der große Grundsatz der englischen Er-
ziehung, mag diese methodisch noch so mangelhaft
sein, der Grundsatz der Ausbildung von Charakter
uitd Selbständigkeit anstelle der bloßen Aneignung
von Lernstoff bethätigte sich auch hier von Anbeginn.
Man sah, daß man mit den Arücken, die uns das
historische Ornament leiht, stets nur ein künstliches
Gehen bewerkstelligen kann und daß es daher weit
einfacher ist, den Schüler auf feine natürlichen Beine
zu stellen. Dies that man an der Hand der Natur,
zunächst an der Hand der Pflanze. Man lehrte

ihn, die natürliche Pflanze frei zu gebrauchen, nach
freiem Belieben irgend ein Ornament für irgend
einen Zweck daraus zu entwickeln. Die Zeit, in
der man ansing dies zu thun, liegt jetzt soweit
zurück, daß bereits ein ganzes Geschlecht erzogen ist,
das mit diesem Werkzeug arbeitet. Diese Leute können
auf dieser Grundlage selbständig gehen, diese Hand-
werker, Zeichner, Dilettanten denken nicht mehr in
Akanthusformen, sondern sie gehen zu der sie uin-
gebenden Natur, sobald sie irgend welche Schmuck-
formen entwickeln wollen. Aus diesem breiten Strome
einer nun bereits zur Ueberlieferung gewordenen
Erziehungsmethode erklärt sich z. B. das heutige
überraschend frische und vielgestaltige englische Stoff-
muster, beiläufig bemerkt das erste Maffen-Eroberungs-
mittel der englischen gewerblichen Aunst auf dem
Kontinent.

Man vergleiche mit diesen Verhältnissen die
unsrigen. Zn unseren Schulen beginnt man eben
erst daran zu zweifeln, daß der Akanthus wirklich
das einzige Erziehungsmittel wäre. Die gewerblichen
Musterzeichner beziehen das Pflanzenornament des
„englischen Stiles" fertig zurechtgemacht aus England
und gehen auch jetzt an der Natur geschloffenen
Auges, wie in der Akanthuszeit, vorüber. Nur etwa
ein halbes Dutzend der größeren Aünstler sehen sich
die Pflanze für ihre Formen an und entwickeln aus
ihr. Aber selbst bei ihnen spricht sich das Ungewohnte
dieser Thätigkeit unvortheilhaft aus, es äußert sich
in etwas, was ich Mangel an Haltung nennen
möchte. Man braucht nur Eckmann's „Neue
Formen" aufzuschlagen, um dies zu bemerken. Von
einer Benutzung durch breitere Schichten unserer
Gewerbetreibenden, von einem allgemeineren Schöpfen
aus dieser unversiegbaren Quelle der Natur ist noch
keine Rede. Die wenigen oben erwähnten Aünstler
schweben mit ihren Bestrebungen in der Luft,
keine Art von Untergrund im Volke unter sich ver-
spürend. Za, die unsere Bewegung begleitende Presse
hat Natur und Pflanze bereits wieder verurtheilt: man
hebt das angeblich „gegenstandslose" Ornament auf
den Schild, die „nichts bedeutende Linie", die „reine
schöne Form" soll die Losung der Aunst der Zukunft
sein. Meines Erachtens liegt solchen Vorstellungen ein
leiser Selbstbetrug zu Grunde; wir können als Menschen,
die als Theil der Natur mitten in der Natur sitzen,
in der Aeußerung unserer künstlerischen Bedürfnisse gar
nicht von der lieben Natur loskommen, es sei denn,
daß wir uns mit den mathematischen Begriffsformen
begnügen, die die einzigen gegenstandslosen, „reinen"
Formen sind. Zeder anderen Form der schmückenden
und bauenden Aunst, mag sie sich äußerlich noch so
sehr als reine Linie zeigen, schieben wir bewußt oder
 
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