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Bayerischer Kunstgewerbe-Verein [Hrsg.]
Kunst und Handwerk: Zeitschrift für Kunstgewerbe und Kunsthandwerk seit 1851 — 77.1927

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Aphorismen von Adolph Bayersdorfer, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.7094#0031

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zu übersetzen. Die Ästhetik kann also nur bis zu einem
gewissen Grade das dem Kunstwerk innewohnende
Gefühl erläutern; in die innerste Tiefe des Kunstwerks
eindringen kann nur das Kunstgefühl, und was es dort
unten Göttliches geschaut, das könnte nur die Kunst
selbst wieder, nie aber die Sprache und auch die be-
geistertste auszudrücken im stände sein.

Wer also zum Beispiel nicht mit der zur vollstän-
digen Erkenntnis der Sixtinischen Madonna notwen-
digen Quantität Kunstorgan begabt ist, aber doch so
viel besitzt, daß er die Mangelhaftigkeit seiner An-
schauung fühlt und eben deshalb dem Selbstbetrug einer
illusorischen Gefühlsschwelgerei ebenso ferne steht, als
dem allegorischenGedankenspiel, mit welchem derVer-
standesmensch ein solches Werk zu umgaukeln liebt —
diesen wird keine Erläuterung, keine Erklärung, keine
noch so poetische Schilderung einen Fuß breit weiter-
führen können zur vollständigen und ungezwungenen
Erkenntnis des Kunstwerks, und nur vielleicht aus an-
deren Kunstwerken ähnlicher Gattung, welche noch
innerhalb der Grenzen seines künstlerischen Erkennt-
nisvermögens liegen, könnte er eine Ahnung bekom-
men von dem weiteren Wege in die Tiefe dieses Mei-
sterwerkes.

So wenig kann man aber jemanden, der kein Kunst-
gefühl besitzt, überzeugen, daß er eigentlich ein Kunst-

werk, welches er vom Standpunkte der dargestellten
Erscheinung oder erlernter ästhetischer Formeln aus
getrost beurteilt, seinem eigentlichen Wesen nach nicht
aufzufassen imstande sei, ebensowenig, als wir die
Schriftzeichen vergangener Geschlechter verstehen,
weil wir zu deren Sprache den Schlüssel nicht besitzen.
Da er keinen Mangel seiner geistigen Tätigkeit fühlt,
dieses ihm fremde Gebiet auch nicht sinnlich wahr-
nehmbar ist, so wird er es weder ahnen, noch wenn
man dasselbe auseinanderzusetzen sucht, daran glau-
ben, gleichwie einem Einäugigen nicht begreiflich zu
machen ist, daß ein Mensch mit zwei Augen von allen
Gegenständen, die innerhalb des von beiden inneren
Schenkeln seines Sehwinkels gebildeten Scheitelwinkels
sich befinden, mehr Fläche sehen kann als er.

Solche Menschen, welche die Sprache, die die Kunst
spricht, nicht verstehen, können recht kluge, gebildete
und gelehrte Männer sein, ja sie können sogar ganz
artig über Ästhetik schreiben in liebenswürdiger Un-
befangenheit. Sie rubrizieren die Kunst in ein rundes
System, steigen an der Sixtinischen Madonna mit Hilfe
einer Leiter in die Höhe, berechnen die Verhältnisse
nach dem Goldenen Schnitt, vollbringen daran aller-
hand nützliche Arbeiten für die Kunsthistorie, breiten
ein verschlungenes Gedankennetz voller geistreicher

JOSEPH W-AC-K ERLE'. URANUS

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