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Bayerischer Kunstgewerbe-Verein [Hrsg.]
Kunst und Handwerk: Zeitschrift für Kunstgewerbe und Kunsthandwerk seit 1851 — 79.1929

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Christoffel, Ulrich: Pariser Brief
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https://doi.org/10.11588/diglit.7096#0052
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PARISER BRIEF

Vom Eiffelturm gesehen liegt die Stadt wie ein silbergrauer, duftiger Nebel in der bläu-
lichen Landschaft der Isle de France. Im Winter, wo das Grün der Bäume fehlt, wird das gleich-
mäßige helle Grau der Häusermassen nur durch die dunklen Schatten der Kirchen und die
lichteren Flecken der großen Plätze unterbrochen und nur gegen Norden geht es in ein strah-
lendes, schneeiges Weiß über, wo der Montmartre mit der Kuppel von Sacre Coeur sich über
der Stadt erhebt, wie eine unwirkliche Vision aus dem Orient, der vor 1200 Jahren bis an die
Loire in Frankreich vorgedrungen war und der jetzt wieder wie nie mehr seit jenen fernen
Zeiten Frankreich und Europa bedroht. Die weite Stadt, die sich an die Hügel des Seinetales
anlehnt und deren Grenzen selbst vom Eisfelturm aus nicht übersehen werden können, ist ein
herrliches Landschaftsbild. Frankreich kennt sonst das, was man in Italien und Deutschland und
England eine »schöne Landschaft« nennt, kaum. Das Land zerfließt vor den Augen in Dunst,
es ist ohne jede Körperlichkeit, auch ohne Perspektive, die sonst am meisten die Phantasie an-
regt, und die Maler kennen es nur als paysage intim. Paris aber ist eine Landschaft mit allen
Eigenschaften und Reizen einer solchen: der Bewegung der Linien, dem Wechsel des Lichtes
und dem gleichmäßigen Hintergrund, von dem sich die Teile der Landschaft abheben. Was
anderswo die Landschaft, das ist in Frankreich die Stadt, was anderswo die Natur, das ist hier
die Kultur.
Paris ist ein städtebauliches Kunstwerk, wie es die Welt kein zweites Mal besitzt. Ehemals
auf die Insel der Notre Dame beschränkt, hat sich die Stadt an den beiden Ufern festgesetzt.
Ring um Ring, bis sie die Größe der modernen Festung erreichte, mit einem Radius von zehn
Kilometern. Während einer Entwicklungszeit von 1000 Jahren hat die Stadt ihre ursprüngliche
mittelalterliche Eiform nicht verändert und ist in der Anlage der Straßen, der Führung der
Transversalen, dem Umriß immer dasselbe gotische Formgebilde geblieben. In Deutschland
wurden die Städte seit dem 17. und 18. Jahrhundert rationalisiert, d. h. es wurde neben das
mittelalterliche System der krummen und spitzen Straßen ein modernes der geraden und recht-
winkligen Straßen gesetzt und neben der gotischen Stadt eine neuzeitliche gebaut. Man er-
innert sich, wie gegen dieses nüchterne, in Deutschland nicht bodenständige, rationale System
des Städtebaues vor einem Vierteljahrhundert eine Reaktion einsetzte und man zu der mittel-
alterlichen, gewachsenen Stadt zurückkehren wollte. Wie es aber in der Geschichte nie ein
Zurück gibt und man im Alter die Kräfte der Jugend nicht wiedererlangen kann, so mußte der
Versuch mißlingen und er führte nur dazu, daß man der modernen Großstadt das Aussehen
eines unschuldigen Dorfes geben konnte, wie es in München geschehen ist.
Paris hat das antikisch-italienische System des rechtwinkligen Straßennetzes nie gekannt.
Obwohl in Paris (jiach Rom) die moderne Städtebaukunst begründet wurde und obwohl in
Paris schon im 17. und 18. Jahrhundert das großartige System der Plätze angelegt wurde, das
heute Paris zur schönsten Stadt der Welt macht, hat die Stadt im ganzen den mittelalterlichen
Charakter bis heute bewahrt. Die Straßen schneiden sich immer im spitzen Winkel und das
unendliche Gewirr sich kreuzender Geraden löst sich in der Harmonie der vielfach gebrochenen
Kreislinie des gesamten Stadtumfanges auf. Irrationales und Rationales, Mittelalterliches und

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