Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Bayerischer Kunstgewerbe-Verein [Hrsg.]
Kunst und Handwerk: Zeitschrift für Kunstgewerbe und Kunsthandwerk seit 1851 — 79.1929

DOI Artikel:
Lill, Georg: Neue Kirchliche Kunst
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7096#0192
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
NEUE KIRCHLICHE KUNST VON GEORG LILL


In der Entwickelungsgeschichte der christlichen Kunst klafft ein Spalt ungewöhnlichster Art,
den wohl spätere Geschlechter überhaupt nicht völlig begreifen können. Ich meine die Tatsache,
daß nach fünfzehn Jahrhunderten führender Stellung innerhalb der europäischen Kunstbewegung
die kirchliche Kunst zum imitatorischen Aschenbrödel herabgesunken war. Von dem, was das
19. Jahrhundert, besonders seine zweite Hälfte, auf dem Gebiete des Kirchenbaues, der Innen-
einrichtung, der Malerei, des Kunstgewerbes in Kirchen geschaffen, werden nur einige wenige
Spitzenleistungen der Vergangenheit bewahrt bleiben, da die jetzige und die kommende Ge-
neration ohne Zweifel das allermeiste aus dieser Zeitperiode aus den Kirchen wieder entfernen
werden, weil sie die künstlerische Minderwertigkeit neben dem hochstehenden Alten einfach
nicht mehr ertragen können.
Diese Tatsache beleuchtet am schlagendsten, woraus »die Krisis der kirchlichen Kunst« ent-
standen ist. Es ist kein Zersetzungsprozeß, der gutes Altes auflöst — es war ja gar kein über-
ragend Gutes mehr vorhanden -, sondern es ist ein Gesundungsprozeß, der Morsches, Ab-
gestorbenes, Blutloses abstößt, um aus altem gutem Saft neue Triebe zu bilden. Es handelt
sich bei der neuen Bewegung viel weniger darum, daß wir um jeden Preis, auch den der ge-
wagtesten und unglückseligsten Experimente und aus rein intellektueller Ueberlegung, einen
absolut neuen Stil bekommen, sondern vielmehr darum, ob die schöpferischen Kräfte der Zeit
an die Kirchen kommen. Die Verkalkung und Abschnürung kirchlicher Kunst ist doch dadurch
entstanden, daß man aus Aengstlichkeit fast ausschließlich mittelmäßige, ja gänzlich untergeord-
nete Kräfte an die Aufgaben der Kirchen heranließ, die aus Mangel eigener Kraft und selbstän-
diger Formkunst in der billigen, geist- und leblosen Nachahmung einmal lebendig Gewesenen
ihr Heil suchten.
Neue Ideen, neue Gestaltungskraft müssen und können uns langsam den Weg zeigen, wie
man auch in der kirchlichen Kunst zu einem Ausdruck kommen kann, der unseren neuzeitlichen
Schönheitsbegrisfen entspricht und doch der inneren Würde eines »Gotteshauses« gerecht wird.
Hier liegt das eigentliche Problem der Umgestaltung. Neue Formen haben nur dann einen
Sinn, wenn Tie auch einer neuen geistigen Einstellung, einer neuen Vertiefung erwachsen. Kann
schon in der profanen Kunst die Formgebung nicht aus einer rein ästhetischen, äußeren Ueber-
legung subjektiver Art erstehen, sondern muß sich aus soziologischen, wirtschaftlichen, kulturellen
Bedürfnissen bilden, so gilt dies erst recht für kirchlidvreligiöse Kunst. Gewiß kann man einzelne
Dinge bloß mit Takt und Einfühlung lösen; aber dort, wo es sich darum handelt, die unge-
heuere Tiefe des religiösen Gefühls einer gebundenen und verbundenen Gemeinde auch aus

IQO
 
Annotationen