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Bayerischer Kunstgewerbe-Verein [Hrsg.]
Kunst und Handwerk: Zeitschrift für Kunstgewerbe und Kunsthandwerk seit 1851 — 79.1929

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Wersin, Wolfgang von: Das Glas
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https://doi.org/10.11588/diglit.7096#0225
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DAS GLAS

VON PROF. WOLFGANG VON WERSIN, MÜNCHEN

Eine der Erlcheinungen, in denen die merkwürdige Mischung von realer und phantasthcher
Einstellung unserer Zeit besonders klar sich ausdrückt, ist ihre ausgesprochene Vorliebe für das
Glas. Es ist nicht nur das, daß das Glas durch eine starke Propaganda für seine Verwendung als
Baustoff gewissermaßen Modebaumaterial geworden ist, daß seine Verwendung gleichsam zum
Glaubensbekenntnis bestimmter Kreise gehört. Die Vorliebe für das Glas ist allgemein. Diese
wie so manche andere Vorliebe teilt unsere Zeit mit dem Kinde sowie mit den primitiven Völ-
kern, für die Glas eine geradezu faszinierende Anziehungskraft hat. Das irgendwie unwahr-
scheinlich Märchenhafte des Gtases, das Unbegreifliche und die Phantasie Erregende empfindet
auch der heutige Menlch. Andererseits ist das Glas hart und klar; und eben diese sonst nur an
tedmischen Dingen gewohnte Präzision und Bestimmtheit, die im Spiel des Lichtes seine auf-
dringliche Greifbarkeit verliert, ja sich auflöst, macht es zum Zeitgemäßesten aller Stosfe.
Es ist merkwürdig, daß das Glas auch wissenfchaftlich ein eigentümliches Ding ist. Es besteht
die Auffassung, daß das Glas auch in seinem festen Zustand als Flüssigkeit anzusehen sei, als
eine Flüssigkeit von hoher Schwerbeweglichkeit, eine Theorie, die nachzuprüfen mir nicht zu-
kommt.
Als Material betrachtet, ist Glas etwas durchaus Vielfältiges. Die Bestandteile (Quarzsand,
Pottasche, Soda u.a.), die bei Hitzegraden von 1300 bis 1600° zusammengeschmolzen werden,
ergeben je nach ihrer verhältnismäßigen Menge ein Glasmaterial verlchiedenster Härte und
Schmelzbarkeit und Glanz; und so fordert denn auch jede von den Glassorten eine ihr eigene
Formgebung.
Das weiche, an der Pfeife handgeformte Glas, das seine Heimat immer noch in Venedig hat,
bietet sowohl in Bezug auf die Form, wie die Farbe und die Oberfläche einen Reichtum an
Behandlungs-Möglichkeiten, der noch lange nicht erschöpft ist. Aber auch in diesem formwilligsten
aller Werkstosfe führt eine kluge Zurückhaltung zu stärkerer Wirkung, als das Gegenteil. Die
unter deutschem Einfluß entstandenen Venezianer-Arbeiten der letzten Jahre beweisen das.
Das in die Hohlform ausgeblasene härtere, aber klarere, deutsche oder böhmische Glas ist
belchränkter in seinen Möglichkeiten. Dünnwandig führt hier der künstlerilche Weg über den
Ausdruck größter Leichtigkeit, die nur noch in der Gravur ihre Steigerung erfährt. Dickwandig
geblasen erhält es erst im Schliff seine Vollendung, am edelsten im breiten Flächenlchliff an
großzügig klaren Formen - ein Gegenpol zum Venezianerglas, aber ihm ebenbürtig an Adel
der Wirkung.
Im ganzen betrachtet sind die Möglichkeiten der Formgebung beim Glas reicher als bei an-
derem Material. Das Besondere am Glas ist, daß es auch in der knappsten, strengsten Fassung
nicht nüchtern, in der reichen nicht leicht banal wird. Die dem Glas ureigensten Formen sind
die, die sich aus dem Aufblasen des an der Pfeife haftenden Glastropfens natürlich ergeben;
alle Formen, die funktionell entstehen, die Ichon in ihrer Entstehung die Verneinung der Schwere
zum Ausdruck bringen. Hierin — in der Verneinung der Schwere und der Ueberwindung des
Körperhaften - mag der große Reiz liegen, den das Glas auf den heutigen Menlchen ausübt.

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