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Kunst der Nation
den Schoß und traktierte ein Glas Wein nach dem
anderen. Wir ließen es, müde wie wir waren,
geduldig über uns ergehen und schliefen schließlich
ein. Dann erinnere ich mich wieder der tollkühnen
Schlittenfahrten, die mein Vater mit aufgeschnall-
tem Schlittschuh lenkte, und die häufig damit
endeten, daß wir uns aus irgendeinem Schnee-
haufen herausbuddeln mußten.
Es gab aber auch Zeiten, in denen er von der
ausgelassensten Fröhlichkeit in das andere Extrem
fiel und äußerst reizbar war. Das war stets der
Fall, wenn er mit seiner Kunst kämpfte. Wir
mußten dann schleunigst aus dem Atelier ver-
schwinden. Den Höhepunkt erreichte diese gespannte
Stimmung, wenn mein Vater, der nie mit seiner
Arbeit fertig wurde, schließlich den Gießer be-
stellen mußte. Dies störte aber meinen Vater
durchaus nicht, sondern er arbeitete ruhig weiter,
bis der Gießer schließlich nach vergeblichen Vor-
haltungen in der Verzweiflung von unten herauf
die Form zu gießen begann und mein Vater
immer höher nach oben gedrängt wurde. Wenn
dann endlich eine Kollision eintreten mußte und
die Spannung unerträglich wurde, nahm mein
Vater plötzlich Hut und Mantel und rannte aus
dem Atelier.
Mein Vater starb. Ich erinnere mich, daß ich
in dieser schweren Zeit an manchem der schönen
Abende am Zürichberg von einem unerklärlich
traurigen und beängstigten Gefühl überfallen
wurde, das Wohl mehr aus einem Ahnen als aus
einem Bewußtwerden des Schicksals entstanden
sein mag.
Aber der Lebenswille und die Spiele der
Jugend überfluteten bald diese Stimmungen. Als
ich älter wurde, begann in mir von neuem das
Bild meines Vaters zu leben und ständig zu
wachsen. Alles, was mich in der Jugend umgab,
sprach doch irgendwie das Wesen meines Vaters
aus, die Familie, unsere ganzen Lebenszusammen-
hänge und vor allem das Werk, in dessen Anblick
ich groß wurde. Ich lernte allmählich die Seele
dieser Geschöpfe kennen, ihre stille Sprache ver-
stehen, und ich fühlte meine Verbundenheit mit
ihnen, da sie doch aus verwandtem Geist und
Blute gezeugt. Die Erkenntnis, daß das Schaffen
meines Vaters untrennbar mit der Familie ver-
bunden war und hierin seine Kraft wurzelte,
wurde mir das schönste Erbe, das er uns hinter-
lassen hat. Die weiblichen Figuren, die von einem
so starken Erlebnis beseelt sind, eine Plastik wie
„Mutter und Kind", oder die Statuetten und
Zeichnungen von uns Kindern, die soviel Liebe
und Naturnähe offenbaren, sind ein Bekenntnis
zu den Grundformen seines Daseins. Wenn ich
diese Werke betrachte, so spüre ich, daß mein Vater
das in unwandelbarer Form ausgesprochen hatte,
was er uns selbst nicht mehr sagen durfte und
vielleicht auch nicht anders und inniger hätte sagen
können.
Aber das Werk meines Vaters hatte, so
glaubte ich zu erkennen, noch größere und wich-
tigere Aufgaben zu erfüllen. Ich sah die Einsam-
keit der Wesen, die er geformt, die seine eigene
Einsamkeit war. Er mußte kämpfen allein gegen
seine Zeit, die seinem innersten Wesen feindlich
War; es war ihm nicht vergönnt, mit und für die
Zeit zu kämpfen. In seinen Aufzeichnungen tritt
W. Lehmbruck, Torso der Sinnenden
die Sehnsucht nach einer verinnerlichten und heroi-
schen Kunst zutage, da er in der Gemeinsamkeit
hätte schassen und wachsen können, da ihn ein
starker umfassender Kunstwille, eine aus dieser
Gesinnung geschaffene Baukunst im Kampf ge-
stützt hätte. Ich glaubte, ein geistiges Erbe —
vielleicht auch eine Aufgabe zu erkennen. Aber
eine große Kultur, die aus dem Lebensquell des
Volkes kommt, ist der Urgrund jeder Kunst, und
bleibt, so sehr sie erkämpft werden muß, eine
Gnade des Schicksals.
Irrtümer der Physiognomik
Kritische Bemerkungen z«I einem Buch von Rudolf Kassner
Es gibt eine gewisse Art von Kritik, die mit ihrer Be-
geisterung die Werte eines Buches vernichtet oder zumindest
verfälscht. Nietzsches Werke fielen solcher Blindheit der
Literaten anheim. Sie werden das nie mehr gutmachen
können, aber sie mögen gewarnt sein, das Buch „Physio-
gnomik" von Rudolf Kassner in die Hand zu nehmen, dessen
Welthaftigkeit sie berauscht, aber nicht erschreckt, und dessen
Lauterkeit des Stils sie beweihräuchern, aber nicht als Aus-
fluß eines trotzigen und sehr männlichen Selbstbewutztseins
erkennen werden. Vom Gesicht des Menschen handelt das
Buch. Der Sinn des Titels „Physiognomik" verspricht, ein
Werk der Lehre vom Sehen zu geben. In jeder Lehre
aber ist der Anspruch auf Allgemeingültigkeit enthalten.
Diesen Zweck einer Schule des Sehens löst das Buch keines-
falls ein. Nichts mutz ihm fremder und ferner sein, als
eben der Zweck. Denn es handelt sich um ein Buch des
Schauens, und es ist darum auf das innigste, im guten und
im schlechten, mit seinem Schöpfer verbunden. Aber Schauen
kann man nicht lehren, nur das Sehen kann man ver-
mitteln, weil es der Logik des Auges und des Bauens
folgen mutz.
Würde es sich um ein mittelmäßiges Werk handeln, dann
wären in ihm die Gefahren der Mißverhältnisse ofsen-
steht die Vorstellung eines deutenden Menschen der Kunst.
Daß eine physiognomische Deutung mit dem Ziel einer Lehre
unmöglich ist, nämlich aus dem schon Verwandelten im
Kunstwerk heraus, hätte Kassner erkennen muffen, sagt er
doch einmal selbst irgendwo, man müsse bei der Beurteilung
von Gesichtern auf alten englischen Darstellungen vorsichtig
sein, da sie oft in höfischer Weise stilisiert seien. Selbst die
größten Meister, auf die sich Kassner berust, bieten in ihren
Portraits dem Physiognomiker keine Anhaltspunkte. Ebenso-
wenig die Photographien. Es geht nicht darum, wie Kassner
irrtümlich meint, Laß zwischen einer Photographie und einem
Kunstwerk von Meisterhand ein Unterschied der Qualität ist,
sondern eine völlige Verschiedenheit der Wesenheiten,
wenn auch die Objekte gleich sind. Und um wievielcs größer
ist dann noch der Unterschied zwischen dem Bild, gleichgültig,
ob Photographie oder Kunstwerk, und dem lebenden Men-
schen! Kassner sicht hier nur den Unterschied zwischen Ori-
ginal und Wiedergabe, aber nicht den zwischen Urform und
dem schon v o r der physiognomischen Deutung Gedeuteten!
Zn diesem grundsätzlichen Irrtum ist das ganze Werk be-
fangen, das somit als „Physiognomik" wertlos, oder besser:
hinfällig, als persönliches Erlebnis allerdings von einzig-
artiger Wahrheit ist. Diese Zwiespältigkeit erscheint dem,
der zu lesen vermag, als Kampf ohne Sieg um die Erkennt-
nis oder gar Existenz des Menschseins. Wenn Kassner mit
den Mitteln eines Künstlers zu dem Ergebnis gelangt, nur
Las Drama im Gesicht eines Menschen gebe Ausschluß, und
nur das Drama aus der Bewegung des Menschen, dann
steht nur eine Möglichkeit offen, die auch in den Voraus-
setzungen richtige und lehrbare Physiognomik zu schaffen:
durch Len Film. Das soll hier nicht weiter ausgcfiihrt wer-
den, doch auf einen anderen beträchtlichen Fehler der Kassncr-
schen Untersuchungen mutz man Hinweisen. Sie beachten nir-
gendwo das rassische Element. Aus diesem Grunde kommen
sie auch zu enormen Fehlschlüssen, z. B. im Falle Rathenau.
Interessant zu lesen, mit welcher Unbekümmertheit ein doch
sonst so wacher Geist wie Kassner die Notwendigkeit einer
Einbeziehung der Rasseoeranlagung überspringt. Er sagt da
wörtlich: „Rassentheoreliker werden von einem negroiden
Typus reden, doch mir kommen solche und ähnliche Begriffe
immer flach vor, wenn ich dabei an die Wirklichkeit denke."
Soweit Kassner. Welch eine Flüchtigkeit der Auffassung,
denn was ist wirklicher, das Gesicht Rathenaus mit der
furchtbaren Tragik eines von Gott losgesprengten und des-
halb liebeleeren und liebeunfähigen Lebens, also mit dem
Ausdruck einer Entwurzelung seiner Rasse, — oder aber die
Diktion Kassners? Nichts ist wirklicher als Rasse; das müßte
gerade ein Physiognomiker wissen. Ein offenes Wort sei
an dieser Stelle gestattet: ein einziges Mal allerdings er-
wähnt Kassner den Einfluß der Raffe: in einer Besprechung
der Physiognomie Stefan Georges. Er spricht davon, daß
George „als einem Sprossen französischen Blutes das Alter
gut bekomme wie allen Abkömmlingen alter Raffen und
Kulturen". Die Bedeutung der Raffe wird in einem Neben-
satz geradezu als bestimmend zugegeben. Warum nicht im
Falle des Juden Rathenau, des Asiaten Lenin und des Deut-
schen Dürer? Weil Kassner mit dieser Konsequenz seins
eigene Ästhetik totschlagen würde, die sich überall und immer
dort cinschlcicht, wo die Physiognomik versagt. Das ist das
Gefährliche an diesen Auseinandersetzungen.
Kassners Buch ist ein Werk der Leidenschaft, besessen von
einem Geiste, der die Trägheit überwinden will. Daß
dieses nicht restlos möglich ist, liegt an dem Mangel grund-
sätzlicher Klarheit. Trotzdem ist das Buch — kann man
Schöneres sagen? — wie ein Mensch, so lebendig, so warm,
daß es noch im Irren gültig ist — nicht für die Lehre, aber
für das Erlebnis, diesseits und jenseits der Physiognomik.
Das Buch ist erschienen im Delphin-Vcrlag in München.
E. S.TH.
Meres-Ungeheuer
Folgende Kunstkritik leistete sich am 26. Oktober 1933 der
,»Anzeiger für den Berliner Norden" („Pankower General-
Anzeiger") :
„Im nahen Verein Berliner Künstler (Tier-
gartenstraße 2 a, bis 12. November) ist alles eine
Generation wohltemperierter. Von dem ge-
storbenen Philipp Franck (noch telephonisch zu er-
reichen! D. Red.) hängt ein letztes Mal ein
Wannsee-Bootshafen da, und das Andere hält sich
auch ganz im bekannten Rahmen: Wir durften
einen guten Potsdamer Stadtkanal von Otto
Heinrich erwarten. Albitz (ein Pankower) hat
einen im Geiste Brachts gebauten, sorgfältigen
„Märztag an der Elbe" zu hängen. Kath, den wir
sonst tüchtig fanden, scheint eine langweilige Feld-
und Wiesen-Malerei eröffnen zu wollen. List, ein
religiöser Maler, steckt voll Reaktion. Mit guten
Gesichten haben Rudolf G. Werner und Karl
Holleck-Weithmann in der Landschaft gestanden.
Sie beide könnten Fortschritt bedeuten. Das
eigentliche Fortschrittstalent im Landschaftern des
Vereins Berliner Künstler wittere ich aber bei
Leopold Jülich, der leider nur mit einer einzigen
Arbeit vertreten ist. In der Plastik ist Merlings
Erwachende zu loben.
Die Galerie Gurlitt (Matthäikirchstraße 27, bis
1. November) zeigt Arbeiten von Walter Kamp-
mann. Das ist der Bildhauer, von dem wir das
als Entwurf mitausgestellte Berliner Denkmal
der Arbeit bekommen. Er ist sicher ein sehr deut-
scher Plastiker, dessen Figuren, Köpfen nnd Tieren
eine gewisse blöd-aztekische Primitivität inne-
wohnt, aber Mildes wie Mondschein drüber hin-
gegossen. Wir können uns sehr Wohl denken, daß
dies monumentale öffentliche Kunst ist. Reinhard
Tacke ist sodann ausgestellt, ein Tiermaler, kein
Tüttel in Marcs Schatten (wie in der Jurhfreien
ein Tierstück Wiethüchters ganz noch steht), aber
unklar hingegeben an billige Flügelpaare (Tauben
spielen eine verhängnisvolle Rolle), formkräftig
aber dann bei Rind und Stier. Zeichnungen von
Kurt Hedloff bleiben vorerst in naturalistischer
Photographierbotschaft, könnten aber weiter,
einige seiner Blätter verraten es, trächtiger wer-
sichtlicher, — und das Buch gehörte zu jenen zwar red-
seligen, doch törichten Versuchen (denen übrigens eine kräf-
tige Bauernschlauheit nicht abzusprschen ist), die den Wipfel
eines Baumes dadurch erreichbar machen, daß sie den Baum
bedenkenlos absägen. Kassner sägt den Baum nicht ab, oder,
um in seiner Weise zu sprechen: er zerbricht nicht das Gefäß,
wie es die zersetzende Psychoanalyse tut. Doch ist er nun
so durchdrungen von den Erfahrungen seiner Eesichtsanschan-
ung, die ihm zur Weltanschauung wird, datz die ungeheuer
fruchtbaren Erkenntnisse, die nur ihm zufallen konnten, mit
Lehrbarem verwechselt, das andere auch anwenden können.
Sier liegt der Bruch dieses Buches, das zwar „Physiognomik"
heißt, aber sich ausdrücklich gegen die aristotelische Auffas-
sung vom Geist und die Versuche Lavaters abgrenzt, die
jedem Teile des Gesichtes eine feststehende Eigenschaft zu-
sprechen: der spitzen Nase die Neugier, dem kräftigen, nach
vorn getriebenen Kinn die Willenskraft und so fort. Das
war lehrbar, wenn auch bedingt falsch. Kassner drückt das
so aus, daß man sehen sollte, wie die Dinge aufeinander
stoben. Er will im Gesicht das Drama erspüren, um von ihm
aus auf das Niveau zu schließen. Dazu ist Intuition nötig.
Wer aber kann Intuition lehren? Niemand. Also müssen
wir uns vernünftigerweise doch dis Frage stellen: Ist denn
mit den hier und bis heute angewandten Mitteln über-
haupt Physiognomik möglich? Und wer, wie Kassner, in
einem Gesicht den Ursprung des Verfallenseins oder der
Gnade zu erfühlen vermag und den gebannten Leser bis
an den Abgrund eines in seinem Nichtanderskönnen grauen-
haften Zudasfchicksals vortreibt, der mutz jenseits alles Lehr-
baren sich stellen und auf Schülerschaft verzichten. Die Ge-
spanntheit dieses Buches droht die Überlegungen des Ver-
standes zu zerreißen.
Lavaters Physiognomik war von einer bürgerlichen Enge
und Angst. Sie verlor sich nicht und war harmlos wie ein
Kartenspiel ohne Einsatz. Kassner liebt das Schicksal: im
Klang des Wortes, im Fleisch des Wortkörpers, im Zu-
einander von Mensch und Tier. Er liebt das Imaginäre im
Tastbaren, das übersinnliche im Fleisch. Aber er merkt nicht,
daß die Gesichter schon geformt sind, gleichsam zum zweiten
Male geformt, denn er geht in fast allen Fällen von einem
Kunstwerk oder einer Photographie aus. Der Judas auf
den Fresken Eiottos muß anders fein, als der Lebende es
war. Denn das Zeitliche des Judas ist im Kunstwerk
Eiottos zum Ewigen verwandelt. Zwischen diesem und jenem
Der Engel von Lucas Cranach
Lucas Cranach d. Ä.,
Ruhe aus der Flucht (Ausschnitt). Berlin
Man könnte annehmen, ein Bild mit der
Unterschrift „Ruhe auf der Flucht nach Ägypten"
müsse nicht nur im Inhaltlichen, sondern auch im
Formalen einem einzigen geborgenen Aufatmen
im Schatten der großen Tanne gleichen. Das ist
nicht der Fall. Der jähe Aufeinanderprall von
bizarrer und schlichter Form, von tiefstem Blau
und stärkstem Rot erweckt vielmehr die Empfin-
dung einer tumultartigen Bewegtheit.
Hart am Rande dieses Gemäldes bedeutet der
kleine Wasserschöpfer wenig:
In ihm klingt nur alles Gegensätzliche leise
ab. Auf dunkelolivem Bodengrund ist als Auf-
hellung der blasse Körper eines Kindes in maß-
voll bewegte Formen gefaßt. In einem Flügel
ist Blau zu Hellenr Blaugrau gebrochen, der an-
dere antwortet mit Scharlachrot. Führen die
Flügel aus dem Bilde hinaus, so stemmen sich
doch die Beine dagegen und die ausgestrecktcn
Arme klammern sich an dem Muschclgefäß fest.
Die Richtungen stoßen charaktervoll in großen
Winkeln aufeinander. Der Kleine steht und
schwebt.
So ist die Welt der Spannungen in diesem
kleinsten Teil des Gemäldes Lucas Cranachs d. A.
noch gedämpft, aber nicht geschwächt, gegen-
wärtig. —
Dem Engel steht der Mund halb offen. Er
interessiert sich dafür, wie das Wasser ans der
Quelle in die Muschel sprudelt, über den Rand
fließt, seine Hand näßt und dann herunter in den
Bach plätschert. oas.
den, steigert zu impressionistischer Süße. Endlich
zeigt Gurlitt die Leben-Luther-Lithographien von
Corinth, die in seinem Kunstverlag einst er-
schienen sind (und konfrontiert sie nebenbei mit
in der Hand des Stechers sehr bedenklich ver-
änderten Luther-Leben-Blättern Menzels.... Die
übrigen Landschaften, die Wohl aus der ländlichen
Umgebung Frohnaus (Stolpe) geholt sind, führen
dann einen eigenen Stil Oberländers
herauf, der aber merkwürdiger-
weise mit Einschlägen wie von
einem Dilettanten her belastet ist."
Erwin Kühl
La Maternelle
(Mutterhändc)
Dieser Film besitzt das Maß, das Frank-
reich heißt. Es ist das Mittelmaß nnd be-
deutet etwas gänzlich anderes als Mittelmäßig-
keit. So national ist dieser Film zwischen Kind-
heit und Erwachen. Er ist französisch, das heißt,
er hat den Abscheu gegen das Extreme, das die
Wirklichkeit mißgestaltet. Aber er bezwingt die
Tiefen der seelischen Erschütterungen durch den
Ausdruck des Alltags. Die Realität bedroht keine
Zerpflücknng in Probleme, wie es anderswo viel-
leicht sehr nahe gelegen hätte.
Eine stellungslose und heimatlose Frau, Rose
mit Namen (Madelaine Renaud), nimmt eine
Aufwartestelle in einer Kinderbewahranstalt an.
Sie verheimlicht ihr bestandenes Staatsexamen
und vergißt angesichts der Kinder ihre Vergangen-
heit einer gutbürgerlichen Tochter aus ruiniertem
Bürgerhause. Die Rivalität zwischen ihr nnd der
„eigentlichen", nämlich etatmäßigen Aufwartefrau
ist ebenso menschlich wie französisch. Die Kinder,,
herrliche Geschöpfe, urwüchsig, verlaust und von
dem Charme ihrer Rasse, lieben Rose mit der
ganzen Eifersucht ihrer eigensinnigen Herzen.
Marie Coeurat (Paulette Flambert), Kind einer
Dirne, aufgeschreckt von einem grellen, quälenden
Bewußtsein einer verdorbenen Welt, immer aus
der Lauer liegend, ob nicht jemand ihr das Schönste
raube, das ihr Rose bedeutet, fühlt zum ersten Male
die Liebe eines Menschen, der sich ihr mütterlich zu-
neigt. Aber sie ist voller Ahnung schwerer, rätsel-
hafter Dinge, die schmerzhaft sind, da man ihrer
nicht Herr werden kann, ohne die Kindheit zu ver-
lieren. Rose ahnt diese Bangnis, die sie mit Be-
sorgnis erfüllt. Dann wendet sie sich den anderen,
glücklicheren Kindern zu, die noch kein Wissen vom
Leben versuchte, das sie alt und eifersüchtig macht.
Das ist der Inhalt dieses ausgezeichneten Fil-
mes. Alles weitere ist Handlung, Manuskript,
auch ein wenig Literatur. Diese Härte tut in
diesem Fall Wohl und bannt die Sentimentalität.
Doch ist es ganz offenbar, daß das Manuskript,
das aus einem Roman hervorgegangen ist, das
rein Optische benachteiligt. Es wird stellenweise
abgedrängt ins Banale, und das kann beim Film
nur heißen: in das Unzulängliche der Handlung,
des Gestaltlosen also. Dieser Mangel wird noch
spürbarer durch eingeschobene Titel nnd Erklä-
rungen, die u. E. völlig überflüssig sind, weil der
französische Dialog so knapp und so scharf in der
Tonformung ist, daß er dem, der des Französischen
nicht mächtig ist, auch das Nichtzuverstehende der
Sprache durch den Klang nahebringt. G. Ur.
In der Staatlichen Kunstbibliothekin
Berlin findet z. Zt. die große Ausstellung „Deutsches
Hcimatwcrk" statt, die die besten Erzeugnisse deutscher Hand-
werkskunst aus allen Gauen vereinigt.
Nach völliger Neuordnung sind die Erdgeschoßräume des
Berliner Kaiser Friedrich-Museums, die die Abteilungen der
frühchristlich-byzantinischen Kunst und der italienischen
Renaissance-Plastik enthalten, wieder zugänglich gemacht
worden.
Werner Scholz eröffnet am 19. November in der
Galerie von der Heyde eine Kollektiv-Ausstellung
seiner neueren Gemälde.
Die Galerie Nierendorf in Berlin zeigt augen-
blicklich Aquarelle des 84jährigen Christian Rohlss.
*
Das auf Seite 1 abgebildete Selbstbildnis Rembrandts
aus der Slg. Larstanjen, jetzt im Museum Köln, ist als
Farbenlichtdruck Nr. 2 der Piper-Drucke erschienen.
Schristleitung: Otto-Andreas Schreiber. — Erscheint im Verlag Kunst der Nation E. m. b. H., Berlin W 82, Kurfürstenstr. 118. — Zuschriften sind an die Redaktion der Kunst der Nation zu richten. Anzeigenannahme beim Verlag.
Jnseratentarif aus Verlangen. Abdruck von Artikeln nur mit Einverständnis des Verlags, auszugsweiser Nachdruck nur mit Quellenangabe gestattet. Haftung für unverlangt eingesandte Manuskripte wird nicht übernommen und jegliche Ver-
antwortung, auch hinsichtlich des Veröffentlichungstermins und der Rücksendung, abgelehnt. Druck H. S. Hermann E. m. b H., Berlin SW 19.
Kunst der Nation
den Schoß und traktierte ein Glas Wein nach dem
anderen. Wir ließen es, müde wie wir waren,
geduldig über uns ergehen und schliefen schließlich
ein. Dann erinnere ich mich wieder der tollkühnen
Schlittenfahrten, die mein Vater mit aufgeschnall-
tem Schlittschuh lenkte, und die häufig damit
endeten, daß wir uns aus irgendeinem Schnee-
haufen herausbuddeln mußten.
Es gab aber auch Zeiten, in denen er von der
ausgelassensten Fröhlichkeit in das andere Extrem
fiel und äußerst reizbar war. Das war stets der
Fall, wenn er mit seiner Kunst kämpfte. Wir
mußten dann schleunigst aus dem Atelier ver-
schwinden. Den Höhepunkt erreichte diese gespannte
Stimmung, wenn mein Vater, der nie mit seiner
Arbeit fertig wurde, schließlich den Gießer be-
stellen mußte. Dies störte aber meinen Vater
durchaus nicht, sondern er arbeitete ruhig weiter,
bis der Gießer schließlich nach vergeblichen Vor-
haltungen in der Verzweiflung von unten herauf
die Form zu gießen begann und mein Vater
immer höher nach oben gedrängt wurde. Wenn
dann endlich eine Kollision eintreten mußte und
die Spannung unerträglich wurde, nahm mein
Vater plötzlich Hut und Mantel und rannte aus
dem Atelier.
Mein Vater starb. Ich erinnere mich, daß ich
in dieser schweren Zeit an manchem der schönen
Abende am Zürichberg von einem unerklärlich
traurigen und beängstigten Gefühl überfallen
wurde, das Wohl mehr aus einem Ahnen als aus
einem Bewußtwerden des Schicksals entstanden
sein mag.
Aber der Lebenswille und die Spiele der
Jugend überfluteten bald diese Stimmungen. Als
ich älter wurde, begann in mir von neuem das
Bild meines Vaters zu leben und ständig zu
wachsen. Alles, was mich in der Jugend umgab,
sprach doch irgendwie das Wesen meines Vaters
aus, die Familie, unsere ganzen Lebenszusammen-
hänge und vor allem das Werk, in dessen Anblick
ich groß wurde. Ich lernte allmählich die Seele
dieser Geschöpfe kennen, ihre stille Sprache ver-
stehen, und ich fühlte meine Verbundenheit mit
ihnen, da sie doch aus verwandtem Geist und
Blute gezeugt. Die Erkenntnis, daß das Schaffen
meines Vaters untrennbar mit der Familie ver-
bunden war und hierin seine Kraft wurzelte,
wurde mir das schönste Erbe, das er uns hinter-
lassen hat. Die weiblichen Figuren, die von einem
so starken Erlebnis beseelt sind, eine Plastik wie
„Mutter und Kind", oder die Statuetten und
Zeichnungen von uns Kindern, die soviel Liebe
und Naturnähe offenbaren, sind ein Bekenntnis
zu den Grundformen seines Daseins. Wenn ich
diese Werke betrachte, so spüre ich, daß mein Vater
das in unwandelbarer Form ausgesprochen hatte,
was er uns selbst nicht mehr sagen durfte und
vielleicht auch nicht anders und inniger hätte sagen
können.
Aber das Werk meines Vaters hatte, so
glaubte ich zu erkennen, noch größere und wich-
tigere Aufgaben zu erfüllen. Ich sah die Einsam-
keit der Wesen, die er geformt, die seine eigene
Einsamkeit war. Er mußte kämpfen allein gegen
seine Zeit, die seinem innersten Wesen feindlich
War; es war ihm nicht vergönnt, mit und für die
Zeit zu kämpfen. In seinen Aufzeichnungen tritt
W. Lehmbruck, Torso der Sinnenden
die Sehnsucht nach einer verinnerlichten und heroi-
schen Kunst zutage, da er in der Gemeinsamkeit
hätte schassen und wachsen können, da ihn ein
starker umfassender Kunstwille, eine aus dieser
Gesinnung geschaffene Baukunst im Kampf ge-
stützt hätte. Ich glaubte, ein geistiges Erbe —
vielleicht auch eine Aufgabe zu erkennen. Aber
eine große Kultur, die aus dem Lebensquell des
Volkes kommt, ist der Urgrund jeder Kunst, und
bleibt, so sehr sie erkämpft werden muß, eine
Gnade des Schicksals.
Irrtümer der Physiognomik
Kritische Bemerkungen z«I einem Buch von Rudolf Kassner
Es gibt eine gewisse Art von Kritik, die mit ihrer Be-
geisterung die Werte eines Buches vernichtet oder zumindest
verfälscht. Nietzsches Werke fielen solcher Blindheit der
Literaten anheim. Sie werden das nie mehr gutmachen
können, aber sie mögen gewarnt sein, das Buch „Physio-
gnomik" von Rudolf Kassner in die Hand zu nehmen, dessen
Welthaftigkeit sie berauscht, aber nicht erschreckt, und dessen
Lauterkeit des Stils sie beweihräuchern, aber nicht als Aus-
fluß eines trotzigen und sehr männlichen Selbstbewutztseins
erkennen werden. Vom Gesicht des Menschen handelt das
Buch. Der Sinn des Titels „Physiognomik" verspricht, ein
Werk der Lehre vom Sehen zu geben. In jeder Lehre
aber ist der Anspruch auf Allgemeingültigkeit enthalten.
Diesen Zweck einer Schule des Sehens löst das Buch keines-
falls ein. Nichts mutz ihm fremder und ferner sein, als
eben der Zweck. Denn es handelt sich um ein Buch des
Schauens, und es ist darum auf das innigste, im guten und
im schlechten, mit seinem Schöpfer verbunden. Aber Schauen
kann man nicht lehren, nur das Sehen kann man ver-
mitteln, weil es der Logik des Auges und des Bauens
folgen mutz.
Würde es sich um ein mittelmäßiges Werk handeln, dann
wären in ihm die Gefahren der Mißverhältnisse ofsen-
steht die Vorstellung eines deutenden Menschen der Kunst.
Daß eine physiognomische Deutung mit dem Ziel einer Lehre
unmöglich ist, nämlich aus dem schon Verwandelten im
Kunstwerk heraus, hätte Kassner erkennen muffen, sagt er
doch einmal selbst irgendwo, man müsse bei der Beurteilung
von Gesichtern auf alten englischen Darstellungen vorsichtig
sein, da sie oft in höfischer Weise stilisiert seien. Selbst die
größten Meister, auf die sich Kassner berust, bieten in ihren
Portraits dem Physiognomiker keine Anhaltspunkte. Ebenso-
wenig die Photographien. Es geht nicht darum, wie Kassner
irrtümlich meint, Laß zwischen einer Photographie und einem
Kunstwerk von Meisterhand ein Unterschied der Qualität ist,
sondern eine völlige Verschiedenheit der Wesenheiten,
wenn auch die Objekte gleich sind. Und um wievielcs größer
ist dann noch der Unterschied zwischen dem Bild, gleichgültig,
ob Photographie oder Kunstwerk, und dem lebenden Men-
schen! Kassner sicht hier nur den Unterschied zwischen Ori-
ginal und Wiedergabe, aber nicht den zwischen Urform und
dem schon v o r der physiognomischen Deutung Gedeuteten!
Zn diesem grundsätzlichen Irrtum ist das ganze Werk be-
fangen, das somit als „Physiognomik" wertlos, oder besser:
hinfällig, als persönliches Erlebnis allerdings von einzig-
artiger Wahrheit ist. Diese Zwiespältigkeit erscheint dem,
der zu lesen vermag, als Kampf ohne Sieg um die Erkennt-
nis oder gar Existenz des Menschseins. Wenn Kassner mit
den Mitteln eines Künstlers zu dem Ergebnis gelangt, nur
Las Drama im Gesicht eines Menschen gebe Ausschluß, und
nur das Drama aus der Bewegung des Menschen, dann
steht nur eine Möglichkeit offen, die auch in den Voraus-
setzungen richtige und lehrbare Physiognomik zu schaffen:
durch Len Film. Das soll hier nicht weiter ausgcfiihrt wer-
den, doch auf einen anderen beträchtlichen Fehler der Kassncr-
schen Untersuchungen mutz man Hinweisen. Sie beachten nir-
gendwo das rassische Element. Aus diesem Grunde kommen
sie auch zu enormen Fehlschlüssen, z. B. im Falle Rathenau.
Interessant zu lesen, mit welcher Unbekümmertheit ein doch
sonst so wacher Geist wie Kassner die Notwendigkeit einer
Einbeziehung der Rasseoeranlagung überspringt. Er sagt da
wörtlich: „Rassentheoreliker werden von einem negroiden
Typus reden, doch mir kommen solche und ähnliche Begriffe
immer flach vor, wenn ich dabei an die Wirklichkeit denke."
Soweit Kassner. Welch eine Flüchtigkeit der Auffassung,
denn was ist wirklicher, das Gesicht Rathenaus mit der
furchtbaren Tragik eines von Gott losgesprengten und des-
halb liebeleeren und liebeunfähigen Lebens, also mit dem
Ausdruck einer Entwurzelung seiner Rasse, — oder aber die
Diktion Kassners? Nichts ist wirklicher als Rasse; das müßte
gerade ein Physiognomiker wissen. Ein offenes Wort sei
an dieser Stelle gestattet: ein einziges Mal allerdings er-
wähnt Kassner den Einfluß der Raffe: in einer Besprechung
der Physiognomie Stefan Georges. Er spricht davon, daß
George „als einem Sprossen französischen Blutes das Alter
gut bekomme wie allen Abkömmlingen alter Raffen und
Kulturen". Die Bedeutung der Raffe wird in einem Neben-
satz geradezu als bestimmend zugegeben. Warum nicht im
Falle des Juden Rathenau, des Asiaten Lenin und des Deut-
schen Dürer? Weil Kassner mit dieser Konsequenz seins
eigene Ästhetik totschlagen würde, die sich überall und immer
dort cinschlcicht, wo die Physiognomik versagt. Das ist das
Gefährliche an diesen Auseinandersetzungen.
Kassners Buch ist ein Werk der Leidenschaft, besessen von
einem Geiste, der die Trägheit überwinden will. Daß
dieses nicht restlos möglich ist, liegt an dem Mangel grund-
sätzlicher Klarheit. Trotzdem ist das Buch — kann man
Schöneres sagen? — wie ein Mensch, so lebendig, so warm,
daß es noch im Irren gültig ist — nicht für die Lehre, aber
für das Erlebnis, diesseits und jenseits der Physiognomik.
Das Buch ist erschienen im Delphin-Vcrlag in München.
E. S.TH.
Meres-Ungeheuer
Folgende Kunstkritik leistete sich am 26. Oktober 1933 der
,»Anzeiger für den Berliner Norden" („Pankower General-
Anzeiger") :
„Im nahen Verein Berliner Künstler (Tier-
gartenstraße 2 a, bis 12. November) ist alles eine
Generation wohltemperierter. Von dem ge-
storbenen Philipp Franck (noch telephonisch zu er-
reichen! D. Red.) hängt ein letztes Mal ein
Wannsee-Bootshafen da, und das Andere hält sich
auch ganz im bekannten Rahmen: Wir durften
einen guten Potsdamer Stadtkanal von Otto
Heinrich erwarten. Albitz (ein Pankower) hat
einen im Geiste Brachts gebauten, sorgfältigen
„Märztag an der Elbe" zu hängen. Kath, den wir
sonst tüchtig fanden, scheint eine langweilige Feld-
und Wiesen-Malerei eröffnen zu wollen. List, ein
religiöser Maler, steckt voll Reaktion. Mit guten
Gesichten haben Rudolf G. Werner und Karl
Holleck-Weithmann in der Landschaft gestanden.
Sie beide könnten Fortschritt bedeuten. Das
eigentliche Fortschrittstalent im Landschaftern des
Vereins Berliner Künstler wittere ich aber bei
Leopold Jülich, der leider nur mit einer einzigen
Arbeit vertreten ist. In der Plastik ist Merlings
Erwachende zu loben.
Die Galerie Gurlitt (Matthäikirchstraße 27, bis
1. November) zeigt Arbeiten von Walter Kamp-
mann. Das ist der Bildhauer, von dem wir das
als Entwurf mitausgestellte Berliner Denkmal
der Arbeit bekommen. Er ist sicher ein sehr deut-
scher Plastiker, dessen Figuren, Köpfen nnd Tieren
eine gewisse blöd-aztekische Primitivität inne-
wohnt, aber Mildes wie Mondschein drüber hin-
gegossen. Wir können uns sehr Wohl denken, daß
dies monumentale öffentliche Kunst ist. Reinhard
Tacke ist sodann ausgestellt, ein Tiermaler, kein
Tüttel in Marcs Schatten (wie in der Jurhfreien
ein Tierstück Wiethüchters ganz noch steht), aber
unklar hingegeben an billige Flügelpaare (Tauben
spielen eine verhängnisvolle Rolle), formkräftig
aber dann bei Rind und Stier. Zeichnungen von
Kurt Hedloff bleiben vorerst in naturalistischer
Photographierbotschaft, könnten aber weiter,
einige seiner Blätter verraten es, trächtiger wer-
sichtlicher, — und das Buch gehörte zu jenen zwar red-
seligen, doch törichten Versuchen (denen übrigens eine kräf-
tige Bauernschlauheit nicht abzusprschen ist), die den Wipfel
eines Baumes dadurch erreichbar machen, daß sie den Baum
bedenkenlos absägen. Kassner sägt den Baum nicht ab, oder,
um in seiner Weise zu sprechen: er zerbricht nicht das Gefäß,
wie es die zersetzende Psychoanalyse tut. Doch ist er nun
so durchdrungen von den Erfahrungen seiner Eesichtsanschan-
ung, die ihm zur Weltanschauung wird, datz die ungeheuer
fruchtbaren Erkenntnisse, die nur ihm zufallen konnten, mit
Lehrbarem verwechselt, das andere auch anwenden können.
Sier liegt der Bruch dieses Buches, das zwar „Physiognomik"
heißt, aber sich ausdrücklich gegen die aristotelische Auffas-
sung vom Geist und die Versuche Lavaters abgrenzt, die
jedem Teile des Gesichtes eine feststehende Eigenschaft zu-
sprechen: der spitzen Nase die Neugier, dem kräftigen, nach
vorn getriebenen Kinn die Willenskraft und so fort. Das
war lehrbar, wenn auch bedingt falsch. Kassner drückt das
so aus, daß man sehen sollte, wie die Dinge aufeinander
stoben. Er will im Gesicht das Drama erspüren, um von ihm
aus auf das Niveau zu schließen. Dazu ist Intuition nötig.
Wer aber kann Intuition lehren? Niemand. Also müssen
wir uns vernünftigerweise doch dis Frage stellen: Ist denn
mit den hier und bis heute angewandten Mitteln über-
haupt Physiognomik möglich? Und wer, wie Kassner, in
einem Gesicht den Ursprung des Verfallenseins oder der
Gnade zu erfühlen vermag und den gebannten Leser bis
an den Abgrund eines in seinem Nichtanderskönnen grauen-
haften Zudasfchicksals vortreibt, der mutz jenseits alles Lehr-
baren sich stellen und auf Schülerschaft verzichten. Die Ge-
spanntheit dieses Buches droht die Überlegungen des Ver-
standes zu zerreißen.
Lavaters Physiognomik war von einer bürgerlichen Enge
und Angst. Sie verlor sich nicht und war harmlos wie ein
Kartenspiel ohne Einsatz. Kassner liebt das Schicksal: im
Klang des Wortes, im Fleisch des Wortkörpers, im Zu-
einander von Mensch und Tier. Er liebt das Imaginäre im
Tastbaren, das übersinnliche im Fleisch. Aber er merkt nicht,
daß die Gesichter schon geformt sind, gleichsam zum zweiten
Male geformt, denn er geht in fast allen Fällen von einem
Kunstwerk oder einer Photographie aus. Der Judas auf
den Fresken Eiottos muß anders fein, als der Lebende es
war. Denn das Zeitliche des Judas ist im Kunstwerk
Eiottos zum Ewigen verwandelt. Zwischen diesem und jenem
Der Engel von Lucas Cranach
Lucas Cranach d. Ä.,
Ruhe aus der Flucht (Ausschnitt). Berlin
Man könnte annehmen, ein Bild mit der
Unterschrift „Ruhe auf der Flucht nach Ägypten"
müsse nicht nur im Inhaltlichen, sondern auch im
Formalen einem einzigen geborgenen Aufatmen
im Schatten der großen Tanne gleichen. Das ist
nicht der Fall. Der jähe Aufeinanderprall von
bizarrer und schlichter Form, von tiefstem Blau
und stärkstem Rot erweckt vielmehr die Empfin-
dung einer tumultartigen Bewegtheit.
Hart am Rande dieses Gemäldes bedeutet der
kleine Wasserschöpfer wenig:
In ihm klingt nur alles Gegensätzliche leise
ab. Auf dunkelolivem Bodengrund ist als Auf-
hellung der blasse Körper eines Kindes in maß-
voll bewegte Formen gefaßt. In einem Flügel
ist Blau zu Hellenr Blaugrau gebrochen, der an-
dere antwortet mit Scharlachrot. Führen die
Flügel aus dem Bilde hinaus, so stemmen sich
doch die Beine dagegen und die ausgestrecktcn
Arme klammern sich an dem Muschclgefäß fest.
Die Richtungen stoßen charaktervoll in großen
Winkeln aufeinander. Der Kleine steht und
schwebt.
So ist die Welt der Spannungen in diesem
kleinsten Teil des Gemäldes Lucas Cranachs d. A.
noch gedämpft, aber nicht geschwächt, gegen-
wärtig. —
Dem Engel steht der Mund halb offen. Er
interessiert sich dafür, wie das Wasser ans der
Quelle in die Muschel sprudelt, über den Rand
fließt, seine Hand näßt und dann herunter in den
Bach plätschert. oas.
den, steigert zu impressionistischer Süße. Endlich
zeigt Gurlitt die Leben-Luther-Lithographien von
Corinth, die in seinem Kunstverlag einst er-
schienen sind (und konfrontiert sie nebenbei mit
in der Hand des Stechers sehr bedenklich ver-
änderten Luther-Leben-Blättern Menzels.... Die
übrigen Landschaften, die Wohl aus der ländlichen
Umgebung Frohnaus (Stolpe) geholt sind, führen
dann einen eigenen Stil Oberländers
herauf, der aber merkwürdiger-
weise mit Einschlägen wie von
einem Dilettanten her belastet ist."
Erwin Kühl
La Maternelle
(Mutterhändc)
Dieser Film besitzt das Maß, das Frank-
reich heißt. Es ist das Mittelmaß nnd be-
deutet etwas gänzlich anderes als Mittelmäßig-
keit. So national ist dieser Film zwischen Kind-
heit und Erwachen. Er ist französisch, das heißt,
er hat den Abscheu gegen das Extreme, das die
Wirklichkeit mißgestaltet. Aber er bezwingt die
Tiefen der seelischen Erschütterungen durch den
Ausdruck des Alltags. Die Realität bedroht keine
Zerpflücknng in Probleme, wie es anderswo viel-
leicht sehr nahe gelegen hätte.
Eine stellungslose und heimatlose Frau, Rose
mit Namen (Madelaine Renaud), nimmt eine
Aufwartestelle in einer Kinderbewahranstalt an.
Sie verheimlicht ihr bestandenes Staatsexamen
und vergißt angesichts der Kinder ihre Vergangen-
heit einer gutbürgerlichen Tochter aus ruiniertem
Bürgerhause. Die Rivalität zwischen ihr nnd der
„eigentlichen", nämlich etatmäßigen Aufwartefrau
ist ebenso menschlich wie französisch. Die Kinder,,
herrliche Geschöpfe, urwüchsig, verlaust und von
dem Charme ihrer Rasse, lieben Rose mit der
ganzen Eifersucht ihrer eigensinnigen Herzen.
Marie Coeurat (Paulette Flambert), Kind einer
Dirne, aufgeschreckt von einem grellen, quälenden
Bewußtsein einer verdorbenen Welt, immer aus
der Lauer liegend, ob nicht jemand ihr das Schönste
raube, das ihr Rose bedeutet, fühlt zum ersten Male
die Liebe eines Menschen, der sich ihr mütterlich zu-
neigt. Aber sie ist voller Ahnung schwerer, rätsel-
hafter Dinge, die schmerzhaft sind, da man ihrer
nicht Herr werden kann, ohne die Kindheit zu ver-
lieren. Rose ahnt diese Bangnis, die sie mit Be-
sorgnis erfüllt. Dann wendet sie sich den anderen,
glücklicheren Kindern zu, die noch kein Wissen vom
Leben versuchte, das sie alt und eifersüchtig macht.
Das ist der Inhalt dieses ausgezeichneten Fil-
mes. Alles weitere ist Handlung, Manuskript,
auch ein wenig Literatur. Diese Härte tut in
diesem Fall Wohl und bannt die Sentimentalität.
Doch ist es ganz offenbar, daß das Manuskript,
das aus einem Roman hervorgegangen ist, das
rein Optische benachteiligt. Es wird stellenweise
abgedrängt ins Banale, und das kann beim Film
nur heißen: in das Unzulängliche der Handlung,
des Gestaltlosen also. Dieser Mangel wird noch
spürbarer durch eingeschobene Titel nnd Erklä-
rungen, die u. E. völlig überflüssig sind, weil der
französische Dialog so knapp und so scharf in der
Tonformung ist, daß er dem, der des Französischen
nicht mächtig ist, auch das Nichtzuverstehende der
Sprache durch den Klang nahebringt. G. Ur.
In der Staatlichen Kunstbibliothekin
Berlin findet z. Zt. die große Ausstellung „Deutsches
Hcimatwcrk" statt, die die besten Erzeugnisse deutscher Hand-
werkskunst aus allen Gauen vereinigt.
Nach völliger Neuordnung sind die Erdgeschoßräume des
Berliner Kaiser Friedrich-Museums, die die Abteilungen der
frühchristlich-byzantinischen Kunst und der italienischen
Renaissance-Plastik enthalten, wieder zugänglich gemacht
worden.
Werner Scholz eröffnet am 19. November in der
Galerie von der Heyde eine Kollektiv-Ausstellung
seiner neueren Gemälde.
Die Galerie Nierendorf in Berlin zeigt augen-
blicklich Aquarelle des 84jährigen Christian Rohlss.
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Das auf Seite 1 abgebildete Selbstbildnis Rembrandts
aus der Slg. Larstanjen, jetzt im Museum Köln, ist als
Farbenlichtdruck Nr. 2 der Piper-Drucke erschienen.
Schristleitung: Otto-Andreas Schreiber. — Erscheint im Verlag Kunst der Nation E. m. b. H., Berlin W 82, Kurfürstenstr. 118. — Zuschriften sind an die Redaktion der Kunst der Nation zu richten. Anzeigenannahme beim Verlag.
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antwortung, auch hinsichtlich des Veröffentlichungstermins und der Rücksendung, abgelehnt. Druck H. S. Hermann E. m. b H., Berlin SW 19.