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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 2.1890/​91

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161

Warnung.

162

WARNUNG!

mag über dieser kleinen Jeremiade stehen, nämlich
für alle Kunstfreunde, die ihr Weg nach dem mittel-
deutschen Westen führt,
— wo inmitten eines Meers von Duft und Blüten
grau und gross das Schloss emporsteigt, Philipps alte Stadt

zu hüten —

und die das Schloss zu Marburg noch in seinem
früheren Zustand gesehen haben; Warnung, die Linie
der Main-Weser-Bahn zu wählen, wofern sie, aus
Rücksicht auf irgend ein schwaches Organ, sei es
Herz oder Darm, jähe Schrecken meiden müssen.

Nicht als wäre man ganz unvorbereitet! Es
ist die alte Geschichte! Alles was dort seit langen
Jahren über die mittelalterlichen Denkmäler ergangen
ist, es gehört leider in das grosse schwarze Buch
zweckloser Zerstörungen, unberufener Restaurationen,
und teils leichtsinniger, teils hier unqualifizirbarer
»Verschleuderungen" unersetzlicher Werke alten
Kunstgewerbes,' schmerzlich für den Altertumskenner,
lächerlich für den Architekten, widerwärtig für jeden
Menschen von Schönheitsgefühl. Ausnahmen in dieser
Kette von Roheiten und Missgriffen, dank dem Zufall
einer einmal vernünftigen oder nicht geschmacklosen
Anwandlung, scheinen in dem beklagenswerten Mar-
burg völlig ausgeschlossen.

Man hätte hoffen können, dass nach dem Ende
des vielverhöhnten kurfürstlichen Regiments die auch
ln- Hessen und Marburg reichlich vorhandene bessere
-umsieht Einfluss gewinnen werde, selbst auf die
■oureaukratie. Allein während man z. B. mit sach-
kundiger Gründlichkeit und Pietät bei dem Deutsch-
°rdensschloss Marienburg vorgegangen ist, werden
ai» hessischen Landgrafenschloss, das doch sogleich
au zweiter Stelle unter den deutschen Schlossbauten
gotischen Stils folgt, die Experimente sonst harm-
loser Dunkelmänner in corpore nobili friedlich fort-
gesetzt, wobei der als hartherzig verschriene Fiskus
Uicht müde wird, für jeden neuen Einfall unbe-
8chränkt und unverantwortlich waltender Provin-
Öalen die gefällige Rolle des goldspeienden Fabel-
tiers zu übernehmen.

Doch selbst nach den bisherigen Kegesten dieser
80 erfreulichen wie ehrenreichen Episode preussisch-
^e«tscher Baugeschichte der »Jetztzeit" (für die der
uifang eines Artikels dieser Zeitschrift nicht hin-
01chen würde) verstehen es die „unbefangenen
, eisen» der blühenden Universitätsstadt uns noch
''Uuier Überraschungen zu bereiten.

^() hat man eben die drei schlanken uchtkan-
Kei1 Ecktürme des herrlichen Saalbaus, statt die

alte, noch erkennbare malerische Zinnenbekrönung
mit leichtester Mühe wiederherzustellen, nach Auf-
satz eines plumpen Mauerrings von rotem Sandstein
(das Material des Baues ist weisser!) mit lang-
gestreckten, schwarzen, aftergotischen Zuckerhüten
bekrönt. Dagegen wurde nach Abbruch des Turmes
der Schlosskapelle (aus dem Ende des 16. Jahr-
hunderts), dieser stilwidrige Turm mit welscher Haube
in plumper Weise kopirt, obwohl von sachkundiger
Seite der Rat erteilt war, der Kapelle (einem Werk
von vornehmster Eleganz) bei der Gelegenheit wieder
einen stilgemässen Dachreiter zu geben. Das lehrreiche
und seltene Dachgestühl des Saalbaues aus dem
14. Jahrhundert ist durch ein eisernes ersetzt und
das neue Schieferdach mit lächerlichen dünnen Nasen
besät worden. —

Wie man soeben hört, bereitet die Marburger Kar-
nevalsgesellschaft für nächsten Februar einen Fast-
nachtsscherz vor, in dessen Libretto uns einige indis-
krete Blicke zu thun vergönnt war. Der ungenannte
Meister, welcher im 16. Jahre König Rudolfs des Habs-
i burgers, glorreichen Angedenkens, den Bau jener Ka-
pelle gestellt, erscheint plötzlich auf dem Schlossberg
und lässt seinen Eindrücken in Stabreimen (um dem
jüngsten Deutschland verständlich zu sein) freien Lauf.
Man hört, wie er zuerst sich freut, dass nach sechs-
hundert Jahren und soviel Fährlichkeiten von Belage-
rungen, Religionsveränderungen und Restaurationen
sein Juwel noch ohne Schäden und Risse das heimat-
liche Thal überragt, wobei er mit einem Druck des
Dankes sein „treues Richtmass" grüsst. Er fragt
verwundert, was das bunte Zeug bedeute an Ge-
wölben und Wänden, er vernimmt, dass ein kraft-
genialischer Meister des Baus, aber nur massiger
Meister der Farbe, dies für Polychromie gehalten
habe; er beruhigt sich damit, dass jene Chemikalien
schon im Herabfallen begriffen sind. Begierig nun
auch zu sehen, was die Erben seines Richtmasses in
so lauger Zeit gelernt, erblickt er die oben geschil-
derten schwarz8chiefrigen Eisenungetüme. Nachdem
er das Gleichgewicht seiner Gliedmassen und die
Sprache wiedergefunden, entnimmt man aus seinen
abgebrochenen Worten, dass er auf die Vorstellung
verfallen ist, der grosse Khan, der kürzlich mit
seinen schlitzäugigen Horden in Peking eingezogen
war, habe seine Kulturfahrten auch bis in diesen
armen Westen erstreckt, ein Verdacht, mit dem er
dem Mongolen wohl Unrecht thut. Als er aber hört.
dass wir selbst, seine lieben blinden Hessen im
20. Jahre des wiedererstandenen Deutschen Reiches,
es so herrlich weit gebracht, da denkt er in Beiner
 
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