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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 2.1890/​91

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Für den Wiener Stephansturm
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https://doi.org/10.11588/diglit.3773#0275

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Für den Wiener Stephansturm.

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heute jemand in der Lage wäre, ihn namhaft zu
machen. Und oh es ratsam sei, in Ermangelung
eines unzweifelhaft Berufenen unter Kräften zweiten
Ranges eine Wahl zu treffen, das wird durch neuere
Bauten in allen Ländern verneinend beantwortet.
Zur Entschuldigung des mehr oder minder Unbe-
friedigenden dient da häufig die Zwangslage, die
Bedürfnisse erforderten einen Neubau, oder die
Wiederherstellung ließ sich nicht aufschieben, wenn
ein altes Werk überhaupt erhalten werden sollte.
Hier aber ist wohl die Notwendigkeit einer Er-
neuerung des Dachgebälkes der St. Stephanskirche
unbedingt anzuerkennen, während zwingende Gründe
für einen zweiten Turm keineswegs beigebracht
werden. Den Zusammenhang mit dem äußeren An-
wachsen Wiens verstehen wir offen gestanden nicht.
Die Stadt wird in künftigen Zeiten noch mehr von
ihrer Umgebung sich einverleiben, wie jede große
Stadt: soll jeder bedeutsame Schritt in diesem natür-
lichen Prozesse durch eine Vermehrung der Dom-
türme gekennzeichnet werden? Der eine Turm soll
das Wahrzeichen der „Schwäche der bisherigen Ge-
schlechter" und des „leidigen Geldmangels" gewesen
sein; „erst wenn der zweite Turm fertig dasteht",
heisst es, „mag der Wiener stolz sein auf seinen St.
Stephan." Haben wir wirklich solchen Änlass, uns
gegenüber den vorausgegangenen Geschlechtern
unserer Stärke zu rühmen? Und wenn jetzt mehr
Geld im Umlauf ist, so dürfte das Verhältnis hei
Berücksichtigung der heute unabweislichen Bedürf-
nisse sich kaum so günstig darstellen. Endlich
meinen wir, auf St. Stephan mit einem Turm auch
ferner stolz sein zu können.

Nicht nur Wien ist stolz auf ihn. Er, und
zwar ausdrücklich der Stephans türm, ist in ganz
Deutschland, wenn wir so sagen dürfen, eine popu-
läre Gestalt. Als vor einem halben Jahrhundert
die Nachricht durch die Zeitungen lief, der Stephans-
turm neige sich und müsse abgetragen werden, be-
schäftigte diese Angelegenheit alle Welt. Gesehen
hatten ihn da draußen die wenigsten, denn eine
Reise nach Wien gehörte noch nicht zu den All-
täglichkeiten; doch aus Abbildungen oder doch dem
Namen nach kannte ihn jeder, an der Nord- und
Ostsee wie am Rhein und am Bodensee. Das Straß-
burger Münster lag in Feindesland, der Kölner Dom
bestand fast nur aus dem Chore, aber der Stephan
mit seinem mächtigen Turme war als das stolzeste
Bauwerk auf deutschem Boden der Vorstellung aller
so geläufig — wie ihrer Zunge das Lied vom Prin-
zen Eugen, dem edlen Ritter. Und vollends jedem

Österreicher war und ist er ans Herz gewachsen, so
wie er ist. Er giebt dem Städtebilde, dessen man
sich von den Höhen des Wienerwaldes erfreut, das
besondere Gepräge. Bereichert worden ist es im
Laufe der letzten Jahrzehnte auch durch eine ganze
Reihe schlanker Doppeltürme, aber noch immer
wird alles überragt von dem nach oben deutenden
steinernen Zeigefinger. Von Reisen heinikehrend,
schaut jeder Wiener vor allem nach diesem Wahr-
zeichen aus, und eines wehmütigen Gefühls hat sich
gewiss keiner erwehrt, der es im Sommer 1862
vermisste. Der Turm, der eine, ist so vielfach in
die Geschichte Wiens verflochten, und sind die Steine
nicht mehr ganz dieselben, die Hanns v. Prachadicz
versetzen ließ, auf denen im 17. Jahrhundert bei
fürstlichen Einzügen die kühnen Fahnenschwenker
emporklommen und von denen aus Rüdiger v. Star-
hemberg die Türken beobachtete, so ist doch der
jetzige Turm der Rechtsnachfolger des ersten und
hat daher denselben Anspruch auf Schutz wie sein
vierhundertjähriger Vorgänger.

Aber, wird eingewendet, dass der zweite Turm
in den Plan gehört, wird auch derjenige anerkennen
müssen, der für den einen St. Stephansturm als bis-
heriges Wahrzeichen eingenommen ist. Sicherlich!
Aber nicht immer erweist sich das Zurückgehen
auf den ursprünglichen Plan als glücklich. Auch
die zweite Turmpyramide des Domes zu Mainz ge-
hörte in den Plan, und deshalb wurde der Kuppel-
turm umgebaut, die originelle Silhouette der Stadt
zerstört, und an der Neuerung hat niemand rechte
Freude. Viel gerechtfertigter war der Wunsch, dein
Stumpf des Ulmer Münsters endlich eine Spitze
aufgesetzt zu sehen; allein was schon das Modell
befürchten ließ, ist nun leider bestätigt: die Tiirm-
masse erscheint viel zu groß und schwer für das
Langhaus. Das ungünstige Höhenverhältuis hätte
vielleicht durch ein steileres Dach des Schiffes aus-
geglichen oder doch gemildert werden können, aber
auch dann würde immer noch der Turm sich als
der gewichtigste Teil des Bauwerkes darstellen, was
mit dessen Idee im Widerspruch steht.

Wie sehr man sich über solche Wirkungen
täuschen kann, so lange nur Zeichnungen und Mo-
delle vorliegen, ist allbekannt. Und wir sind durch-
aus nicht sicher, dass ein zweiter Turm von so
kolossalen Verhältnissen das Gesamtbild der Stephans-
kirche verbessern würde. Nur ein unfruchtbarer
Doktrinarismus widersetzt sich, wenn berechtigt«
Anforderungen der lebendigen Gegenwart da'/"
zwingen, etwas von dem Erbe der Vergangen'1''''
 
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