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Der heutige Stand
der Poliphilus-Frage
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a Colonna schon mit 22 Jahren Dominikaner war.
Auch seine Reisen dürften sich auf Italien, vor allem
Rom, beschränkt haben. Schon Marchese kam der
Wahrheit näher, indem er annahm, die Romanform
sei gewählt worden, um die Lehren des Vitruv dem
Publikum mundgerecht zu machen. Die Personen
des Romans erklärt Marchese für Allegorien. Hg4) be-
hauptet sogar, das Buch sei im letzten Grunde gar
keine poetische Arbeit, sondern ein Kunsttraktat. Das
letzte Wort in dieser Hinsicht sprach Gnoli8) [dem
sich Kristeller6) anschloß], der das Werk für die
»Bibel des Humanismus« erklärte: in Form eines
märchenhaften Romans seien die philosophischen Ten-
denzen und die Lebenanschauungen des Humanismus
verkörpert. Was die Form des Romans betrifft, so
hat schon Popelin 7) durch den Hinweis darauf, daß
die kleineren Schriften des Boccaccio nachgeahmt
seien, die Legende von der Selbstbiographie des Co-
lonna unwiderleglich zerstört. Ephrussi8) wies auf
die Ähnlichkeit mit dem »Roman de la Rose« und
mit einigen Stellen der »Divina commedia« des Dante
hin. Gnoli endlich hat in der genannten Arbeit in
einer ausgezeichneten Analyse endgültig nachgewiesen,
daß das Buch eine, stellenweise bis ins Detail getreue,
freie Bearbeitung der »Visione amorosa« des Boccaccio
sei und daß Colonna außerdem auch die »Teseide«,
den »Ameto« und den »Filocopo« Boccaccios benützt
habe.
Was die Bedeutung des Buches als Architektur-
traktat anbelangt, so haben schon die ersten, die dar-
über geschrieben haben, bemerkt, wie gründlich Co-
lonna den Vitruv kannte. Temanza hat auch schon
nachgewiesen, daß er den 1485 zum erstenmal er-
schienenen Traktat des Leonbattista Alberti gekannthaben
muß, da er einige Male sich eng an ihn anlehnt, ein-
mal ihn sogar fast wörtlich zitiert. Hier erhebt sich
aber gleich die Frage nach dem Datum der Ab-
fassung des Buches. Einige Autoren wandten ein,
das Buch müsse vor Albertis Buch geschrieben sein,
denn der Schluß des Textes der Hypnerotomachia
lautet: »Tarvisij cum decorissimis Poliae amore loru-
lis distineretur miselus Poliphilus MCCCCLXVII.,
Calendis Maij.« Daraus schlössen Temanza, Ilg und
Ephrussi, das Buch sei 1467 geschrieben worden,
dann aber viele Jahre ungedruckt liegen geblieben
und erst kurz vor dem Drucke (1499) endgültig revi-
diert worden. Tatsächlich findet sich auf einer der
im Buche reproduzierten (erfundenen) »antiken« In-
schriften die Jahreszahl 1498. Federici hat die Zahl
1467 so erklären wollen, daß sie das Datum bedeute,
an dem Colonna den Traum, der den Inhalt des
4) Über den kunsthistorischen Wert der Hypneroto-
machia Poliphili (Tübinger Dissertation; Wien 1872).
5) II Sogno di Polifilo in »La Bibliofilia« I. (Firenze
1899-1900), p. 189 ff., 266 ff.
6) Kupferstich und Holzschnitt (Berlin 1905), p. 130,
136 ff. —
7) Le songe de Poliphile (Paris 1887) (Übersetzung
und Einleitung). .
8) Le songe de Poliphile im »Bulletin du Bibliophile«
LIV (1887), p. 305 ff., 401 ff., 457 ff., 505 ff.
Buches bildet, gehabt habe. Die wahrscheinlichste
dürfte die Ansicht sein, daß das Buch 1467 in der
Hauptsache geschrieben und dann umgearbeitet wurde.
Trotz seines so verspäteten Erscheinens hatte es immer
noch eine Bedeutung, da es der erste Architektur-
traktat in der Volkssprache war; denn auch das Werk
des Alberti war lateinisch abgefaßt. Das späte Er-
scheinen erklärt es auch, daß es bei seinem Erscheinen
im Jahre 1499 in künstlerischer Hinsicht schon lange
überholt war, da es noch ganz auf dem Boden der
Frührenaissance steht. C. war selbst jedenfalls kein
ausübender Architekt, sondern bloß ein Architektur-
theoretiker, der sich am Vitruv, als einer der ersten,
gründlich geschult hatte.
Die phantastischesten Konjekturen wurden aber
über den Autor der zahlreichen meisterhaften Holz-
schnitte, die das Buch zieren, gemacht. Den Reigen
eröffnet Temanza mit der Behauptung, die Zeichnungen
rührten von C. selbst her, eine Behauptung, die bald
fallen gelassen werden mußte, da man bemerkte, daß
die Architekturzeichnungen mit dem Texte oft in ent-
scheidenden Punkten auseinandergehen. Dann kamen
wüste Zuschreibungen an Mantegna, Carpaccio, Bot-
ticelli und sogar an Raffael! Federici entdeckte die
Marke -b- , die sich auf einigen Blättern findet, und
da er auch den stilistischen Zusammenhang mit der
Bellinischule bemerkte, schrieb er die Zeichnung direkt
Gianbellino zu, eine Ansicht, die lange geglaubt wurde
und die auch noch Nagler9) beibehielt. Später begann
dann eine fieberhafte Suche nach einem Meister, auf
den das • L> • passen könnte. Ilg erkannte in den
Zeichnungen zwei verschiedene Hände, fand bellineske
und mantegneske Einflüsse, den weiblichen Ideal-
typus hingegen dem des Palma am nächsten und riet
daher auf Bartolomeo und Benedetto Montagna als
auf die Meister der Schnitte. Lippmann10) brachte
(selbst zweifelnd) Jacopo de Barbari in Vorschlag.
Andere wieder rieten auf Sperandio, den Niellisten
Peregrini. Noch Biadego11) riet ohne jede wissen-
schaftliche Begründung, nur um das rätselhafte •*>•
zu erklären, auf Benedetto Bordone. Inzwischen hatten
aber schon der Duc de Rivoli und Ephrussi12) völlig
unzweifelhaft nachgepriesen, daß das -B- keine Maler-
marke, sondern eine Holzschneidermarke sei, da man
in verschiedenen venezianischen Holzschnittwerken
trotz verschiedener Marken dieselbe Hand, trotz ver-
schiedener Hände dieselben Marken finde. Ephrussi
stellte auch die Ansicht auf, der sich jüngst Kristeller
angeschlossen hat, daß wir es bei diesen Holzschnitten
nicht mit Arbeiten nach den Entwürfen bestimmter
Künstler zu tun haben, sondern daß sich in Venedig
9) Die Monogrammisten I (München 1858) p. 712 ff.
10) Im Jahrbuch der kgl. preuß. Kunstsammlung V
(1884) p. 198 ff. (Auch englisch als eigenes Buch: »The
art of Wood-Engraving in Italy in the XV«i Century«,
London 1888, p. 120 ff.
11) Intorno al Sogno di Polifilo in »Atti del R. Istituto
Veneto di scienze etc.«, Tomo LX, Parte II. (1901) p. 699 ff.
12) In der Oaz. des beaux arts 1890, p. 494 ff (dort
auch ältere Arbeiten der beiden Autoren über dieses Thema
angegeben).
Der heutige Stand
der Poliphilus-Frage
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a Colonna schon mit 22 Jahren Dominikaner war.
Auch seine Reisen dürften sich auf Italien, vor allem
Rom, beschränkt haben. Schon Marchese kam der
Wahrheit näher, indem er annahm, die Romanform
sei gewählt worden, um die Lehren des Vitruv dem
Publikum mundgerecht zu machen. Die Personen
des Romans erklärt Marchese für Allegorien. Hg4) be-
hauptet sogar, das Buch sei im letzten Grunde gar
keine poetische Arbeit, sondern ein Kunsttraktat. Das
letzte Wort in dieser Hinsicht sprach Gnoli8) [dem
sich Kristeller6) anschloß], der das Werk für die
»Bibel des Humanismus« erklärte: in Form eines
märchenhaften Romans seien die philosophischen Ten-
denzen und die Lebenanschauungen des Humanismus
verkörpert. Was die Form des Romans betrifft, so
hat schon Popelin 7) durch den Hinweis darauf, daß
die kleineren Schriften des Boccaccio nachgeahmt
seien, die Legende von der Selbstbiographie des Co-
lonna unwiderleglich zerstört. Ephrussi8) wies auf
die Ähnlichkeit mit dem »Roman de la Rose« und
mit einigen Stellen der »Divina commedia« des Dante
hin. Gnoli endlich hat in der genannten Arbeit in
einer ausgezeichneten Analyse endgültig nachgewiesen,
daß das Buch eine, stellenweise bis ins Detail getreue,
freie Bearbeitung der »Visione amorosa« des Boccaccio
sei und daß Colonna außerdem auch die »Teseide«,
den »Ameto« und den »Filocopo« Boccaccios benützt
habe.
Was die Bedeutung des Buches als Architektur-
traktat anbelangt, so haben schon die ersten, die dar-
über geschrieben haben, bemerkt, wie gründlich Co-
lonna den Vitruv kannte. Temanza hat auch schon
nachgewiesen, daß er den 1485 zum erstenmal er-
schienenen Traktat des Leonbattista Alberti gekannthaben
muß, da er einige Male sich eng an ihn anlehnt, ein-
mal ihn sogar fast wörtlich zitiert. Hier erhebt sich
aber gleich die Frage nach dem Datum der Ab-
fassung des Buches. Einige Autoren wandten ein,
das Buch müsse vor Albertis Buch geschrieben sein,
denn der Schluß des Textes der Hypnerotomachia
lautet: »Tarvisij cum decorissimis Poliae amore loru-
lis distineretur miselus Poliphilus MCCCCLXVII.,
Calendis Maij.« Daraus schlössen Temanza, Ilg und
Ephrussi, das Buch sei 1467 geschrieben worden,
dann aber viele Jahre ungedruckt liegen geblieben
und erst kurz vor dem Drucke (1499) endgültig revi-
diert worden. Tatsächlich findet sich auf einer der
im Buche reproduzierten (erfundenen) »antiken« In-
schriften die Jahreszahl 1498. Federici hat die Zahl
1467 so erklären wollen, daß sie das Datum bedeute,
an dem Colonna den Traum, der den Inhalt des
4) Über den kunsthistorischen Wert der Hypneroto-
machia Poliphili (Tübinger Dissertation; Wien 1872).
5) II Sogno di Polifilo in »La Bibliofilia« I. (Firenze
1899-1900), p. 189 ff., 266 ff.
6) Kupferstich und Holzschnitt (Berlin 1905), p. 130,
136 ff. —
7) Le songe de Poliphile (Paris 1887) (Übersetzung
und Einleitung). .
8) Le songe de Poliphile im »Bulletin du Bibliophile«
LIV (1887), p. 305 ff., 401 ff., 457 ff., 505 ff.
Buches bildet, gehabt habe. Die wahrscheinlichste
dürfte die Ansicht sein, daß das Buch 1467 in der
Hauptsache geschrieben und dann umgearbeitet wurde.
Trotz seines so verspäteten Erscheinens hatte es immer
noch eine Bedeutung, da es der erste Architektur-
traktat in der Volkssprache war; denn auch das Werk
des Alberti war lateinisch abgefaßt. Das späte Er-
scheinen erklärt es auch, daß es bei seinem Erscheinen
im Jahre 1499 in künstlerischer Hinsicht schon lange
überholt war, da es noch ganz auf dem Boden der
Frührenaissance steht. C. war selbst jedenfalls kein
ausübender Architekt, sondern bloß ein Architektur-
theoretiker, der sich am Vitruv, als einer der ersten,
gründlich geschult hatte.
Die phantastischesten Konjekturen wurden aber
über den Autor der zahlreichen meisterhaften Holz-
schnitte, die das Buch zieren, gemacht. Den Reigen
eröffnet Temanza mit der Behauptung, die Zeichnungen
rührten von C. selbst her, eine Behauptung, die bald
fallen gelassen werden mußte, da man bemerkte, daß
die Architekturzeichnungen mit dem Texte oft in ent-
scheidenden Punkten auseinandergehen. Dann kamen
wüste Zuschreibungen an Mantegna, Carpaccio, Bot-
ticelli und sogar an Raffael! Federici entdeckte die
Marke -b- , die sich auf einigen Blättern findet, und
da er auch den stilistischen Zusammenhang mit der
Bellinischule bemerkte, schrieb er die Zeichnung direkt
Gianbellino zu, eine Ansicht, die lange geglaubt wurde
und die auch noch Nagler9) beibehielt. Später begann
dann eine fieberhafte Suche nach einem Meister, auf
den das • L> • passen könnte. Ilg erkannte in den
Zeichnungen zwei verschiedene Hände, fand bellineske
und mantegneske Einflüsse, den weiblichen Ideal-
typus hingegen dem des Palma am nächsten und riet
daher auf Bartolomeo und Benedetto Montagna als
auf die Meister der Schnitte. Lippmann10) brachte
(selbst zweifelnd) Jacopo de Barbari in Vorschlag.
Andere wieder rieten auf Sperandio, den Niellisten
Peregrini. Noch Biadego11) riet ohne jede wissen-
schaftliche Begründung, nur um das rätselhafte •*>•
zu erklären, auf Benedetto Bordone. Inzwischen hatten
aber schon der Duc de Rivoli und Ephrussi12) völlig
unzweifelhaft nachgepriesen, daß das -B- keine Maler-
marke, sondern eine Holzschneidermarke sei, da man
in verschiedenen venezianischen Holzschnittwerken
trotz verschiedener Marken dieselbe Hand, trotz ver-
schiedener Hände dieselben Marken finde. Ephrussi
stellte auch die Ansicht auf, der sich jüngst Kristeller
angeschlossen hat, daß wir es bei diesen Holzschnitten
nicht mit Arbeiten nach den Entwürfen bestimmter
Künstler zu tun haben, sondern daß sich in Venedig
9) Die Monogrammisten I (München 1858) p. 712 ff.
10) Im Jahrbuch der kgl. preuß. Kunstsammlung V
(1884) p. 198 ff. (Auch englisch als eigenes Buch: »The
art of Wood-Engraving in Italy in the XV«i Century«,
London 1888, p. 120 ff.
11) Intorno al Sogno di Polifilo in »Atti del R. Istituto
Veneto di scienze etc.«, Tomo LX, Parte II. (1901) p. 699 ff.
12) In der Oaz. des beaux arts 1890, p. 494 ff (dort
auch ältere Arbeiten der beiden Autoren über dieses Thema
angegeben).