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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 23.1912

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Pollak, Oskar: Der heutige Stand der Poliphilus-Frage
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https://doi.org/10.11588/diglit.5954#0228

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ACAD. LESEH.

25MAU912

KUNSTCHRONIK

WOCHENSCHRIFT FÜR KUNST UND KUNSTGEWERBE

Verlag von E. A. SEEMANN in Leipzig, Hospitalstraße 11 a
Neue Folge. XXIII. Jahrgang 1911/1912 Nr. 28. 24. Mai 1912.

Die Kunstchronik erscheint als Beiblatt zur Zeitschrift für bildende Kunst« monatlich dreimal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfaßt 40 Nummern.
Die Abonnenten der »Zeitschrift für bildende Kunst« erhalten die Kunstchronik kostenfrei. — Für Zeichnungen, Manuskripte usw., die unverlangt
eingesandt werden, leisten Redaktion und Verlagshandlung keine Gewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E.A.Seemann,
Leipzig, Hospitalstraße IIa. Anzeigen 30 Pf. für die dreispaltige Petitzeile, nehmen außer der Verlagshandlung die Annoncenexpeditionen an.

DER HEUTIGE STAND DER POLIPHILUS-FRAOE.

Das schönste und berühmteste Buch der italieni-
schen Renaissance, die 149g bei Aldus in Venedig
anonym erschienene »Hypnerotomachia Poliphili«, hat
die Kunstwissenschaft durch fast zwei Jahrhunderte
in Atem gehalten und hat im Laufe der Zeit zu den
phantastischesten Vermutungen und Hypothesen über
den Inhalt, den Autor, den Zeichner der Holzschnitte
u. a. m. veranlaßt, bis die moderne Forschung durch
archivalische Studien und durch stilkritische Betrach-
tungen von dem stolzen Phantasiebau ein Stück nach
dem anderen abbrach und schließlich den wahren,
recht nüchternen Kern bloßlegte. Vom Thieme-
Becker'schen »Künstlerlexikon« mit der Abfassung
eines Artikels über Francesco Colonna betraut, mußte
ich der großen weitverzweigten Literatur nachgehen
und die einzelnen Phasen des kunstwissenschaftlich-
programmatisch interessanten Poliphilusproblems ver-
folgen. Da sich aber aus naheliegenden Gründen
die Notwendigkeit ergab, im Künstlerlexikon sich
auf das Allernotwendigste zu beschränken, so wird
es vielleicht nicht uninteressant sein, an dieser Stelle
einen kurzen Überblick über die Etappen dieser merk-
würdigen Frage zu geben.

Erst im 18. Jahrhundert entdeckte Apostolo Zeno]),
daß der Name des anonymen Autors in dem Akro-
stichon, das die Anfangsbuchstaben der einzelnen
Kapitel des Buches ergaben, versteckt sei. Es lautet:
»POLIAM FRATER FRANCISCUS COLUMNA
PERAMAVIT.« Außerdem wies Apostolo Zeno auf
eine zu Lebzeiten des Colonna geschriebene Notiz
in einem Exemplare der »Hypnerotomachia« hin,
das sich in der Bibliothek der PP. Domenicani
delle Zattere in Venedig befand und welche lautete:
»MDXII • XX- Junij MDXXI. Nomen verum auctoris
est Franciscus Columna venetus, qui fuit ordinis
praedicatorum, et dum amore ardentissimo cujusdam
Hippolitae teneretur Tarvisij, mutato nomine Poliam
eam autumnat, cui opus dedicat, ut patet. Librorum
capita hoc ostendunt, ut pro unoquoque libro prima
Iitera ita simul juncta dicunt:

Poliam frater Franciscus Columna peramavit.
Adhuc vivit Vehetiis in S. Johanne et Paulo«.

Wenn man diese Notiz auf ihre Echtheit heute

1) Im Giornale de' letterati d' Italia XXXV (Venezia
1724), p. 300 ff.

auch nicht mehr nachprüfen kann, weil dieses Exem-
plar des Buches verschollen ist, so haben doch ar-
chivalische Forschungen die meisten Angaben be-
stätigt. Diese Forschungen, die vom ersten Biographen
Colonnas, von Tommaso Temanza2) begonnen und
besonders von D. M. Federici *) ausgebaut wurden,
ergaben die Resultate, daß Colonna von 1455—1472
im Dominikanerkonvent von S. Niccolö in Treviso
lebte und dort als Lektor der Rhetorik, Grammatik
und der .fremden Sprachen, sowie als Novizenmeister
wirkte. Im Jahre 1473 kam er als Baccalaureus nach
Padua, las Theologie und erwarb dort das Magister-
Laureat. Im Jahre 1471 wird er zum erstenmal in
den Büchern des Konvents von SS. Giovanni e Paolo
in Venedig erwähnt, wo er dann, seit seiner Rückkunft
von Padua, den größern Teil seines Lebens ständig
bis zu seinem Tode sich aufgehalten hat. 1485 er-
wählten ihn die Nonnen von S. Paolo zu Treviso zu
ihrem Prokurator in Venedig. 1494 begleitete er den
neugewählten Dominikanerprovinzial auf dessen In-
spektionsreise nach Treviso. 1500 wird er als Sa-
kristan von SS. Giovanni e Paolo und von da ab noch
mehrmals als eines der angesehensten Mitglieder
dieses Konvents erwähnt. Er starb im Konvente im
hohen Alter von 94 Jahren (war also 1433 geboren).

Temanza hielt die Vorgänge des Romans für eine
phantastische Selbstbiographie des Autors, der nach
ihm in der Jugend weite Reise durch Italien, nach
Griechenland und nach dem Orient gemacht und die
architektonisch-antiquarischen Ergebnisse, gestützt auf
die Kenntnis des Vitruv und des Leonbattista Alberti,
hier niedergelegt habe. Auch die eingeflochtene
Liebesgeschichte des Poliphilus und der Polia, die in
Form eines Traumes erzählt wird, wollte er auf den
Autor beziehen und nahm selbst an, Colonna sei mit
der Heldin, deren Namen sogar Federici in der Hi-
polita, der Tochter des Trevisaner Rechtslehrers Fran-
cesco Lelio gefunden zu haben glaubte, vor seinem
Eintritte in den Dominikanerorden verheiratet gewesen.
Alle diese Hypothesen stürzen bei genauer Betrach-
tung der archivalischen Funde in sich zusammen, da

2) Vite dei piu celebri Architetti e scultori Veneziani
(Venezia 1778), p. 1 ff.

3) Memorie Trevigiane sulle' opere del disegno I
(Venezia 1803), p. 98 ff; — Vgl. -auch Vinc. Marchese,
Memorie dei piii insigni Pittori, scultori ed architetti Do-
menicani, 2a. edit. (Firenze 1854), I. 332 ff.
 
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