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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 27.1915/​1916

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Raphaël, Gaston: Gewerbeschulen und Kunstgewerbe in Deutschland: Auszug aus einem an den Minister des öffentlichen Unterrichts erstatteten Bericht
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https://doi.org/10.11588/diglit.4828#0106

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hervorragend genialen Belgier, M. Henry van der Velde, als
Direktor seiner Kunstgewerbeschule nach Weimar berufen.

So spielt sich dann die Anstellung der Lehrer auf fol-
gende Weise ab: wenn ein Posten frei wird, so setzt man
eine Annonce in eine gewöhnliche oder in eine Fachzeitung,
die Kandidaten stellen sich vor, das Komitee der Pro-
fessoren examiniert sie auf ihre Fähigkeiten hin, schlägt
der Behörde (königlichen, städtischen oder herzoglichen)
einen oder mehrere Namen vor, und diese bestätigt die
definitive Berufung.

Die Methode hat große Vorzüge. Sie erübrigt das
System jener kostspieligen Schulen, wo die zukünftigen
Lehrer nur eine knappe theoretische Bildung erhalten, und
nach einer altfränkischen schematischen Methode, als ob
es keine Werkstätten und praktischen Arbeiten gäbe. Es
sichert den Schulen Lehrer, die durchaus dem Handwerke
angehören und sich im praktischen Leben bewährt haben.
Sie gestattet, daß ein Schüler, der in seiner Schule Beweise
von Tüchtigkeit geliefert hat, später als Lehrer an dieselbe
Schule zurückberufen und so ein Förderer ihrer eigenartigen
Überlieferungen und ein Erhalter ihres ihr eigentümlichen
Charakters werden kann. Und da außer einem ziemlich
hohen Gehalt den Lehrern freie Zeit und Vorteile be-
willigt werden (unter anderem ein eigenes Atelier in der
Schule), die ihm die angenehme Möglichkeit geben, für
sich selbst zu arbeiten, — da man sogar dafür sorgt, daß
sie eine Kundschaft erhalten, so kann man sicher sein, daß
diese Lehrer niemals die Fühlung mit der praktischen
Arbeit verlieren.

Komplizierter ist die Frage, wie die Lehrer für die
Fortbildungsschulen zu beschaffen seien. Ursprünglich er-
teilten Schullehrer den Unterricht in Klassenräumen. Sie
nahmen diesen Zuwachs an Arbeit an, um ihre Gehalts-
einkünfte zu vermehren. Aus verschiedenen Gründen jedoch
konnte diese Einrichtung nur provisorisch sein. Die Schüler-
zahl wuchs ungemein schnell. Neue Räume mußten für sie
eingerichtet werden. Der Zuwachs an Arbeit überstieg die
Kräfte der Lehrer; die Abendstunden, an denen die Lehrer
frei waren, schieden aus, und schließlich rückte die tech-
nische Seite in den Mittelpunkt dieses ergänzenden und
fachlichen Unterrichts. Die Lehrer waren nicht nur mit
Arbeit überhäuft, sondern ihre Fähigkeiten genügten auch
nicht mehr.

Indessen fuhr man noch einige Jahre fort, sie zu be-
schäftigen. Man entlastete sie, indem man die Zahl der
Schulstunden einschränkte. Sie mußten, um sich für das
Fachliche, das dieser Unterricht unbedingt erfordert, vor-
zubereiten, ein paar Kurse an einer Handelsschule oder
an einer Universität durchmachen und sich in Werkstätten
und Fabriken umsehen. Die Stadt Mainz stellt heute noch
ihre Lehrer erst ein, nachdem sie sich zwei Jahre lang in
einer Werkstatt praktisch vorbereitet haben.

Aber mehr und mehr werden die Schullehrer — oft
gegen ihren Willen und trotz ihres Protestes — vom Unter-
richt an den Fortbildungsschulen ausgeschlossen. In
München stellt man sie gar nicht mehr an, und in Leipzig
besetzt man ihre Stellen nach und nach mit Fachlehrern.

Diese Fachlehrer sind entweder für den technischen
oder für den theoretischen Unterricht eingestellt. In der
Wahl der Techniker ist man nicht mehr schwankend. Die
Lehrer für Tischlerei sind Tischler und so fort; das will
sagen: man versieht sich nach dem oben angeführten Ver-
fahren (Annonce, Probezeit und definitive Wahl) aus den
betreffenden Werkstätten und Fabriken mit tüchtigen Werk-
meistern, Werkführern usw., die mit dem praktischen Unter-
richt an den Schulen betraut werden. Sie werden entweder
in ihrer gewohnten Arbeit fortfahren können, oder, wenn
die Schulen (die fachlichen Schulen) genug für sie zu tun

haben, sich ganz dem Unterricht widmen müssen, ohne
doch die Fühlung mit der praktischen Arbeit zu verlieren.
Gleichzeitig bildet sich eine Art neuer Lehrer, die Fort-
bildungslehrer heran. Das sind meistens Schullehrer, die
nicht in Fachschulen gebildet sind, sondern einen Er-
gänzungskursus durchgemacht und das Unterrichten an
Elementarschulen vollständig aufgegeben haben. Andere
kommen von technischen Schulen, von Gewerbeschulen,
Handelsschulen oder Universitäten. Auch sie legen kein
besonderes Examen ab und werden, bis heute wenigstens,
von den Direktoren und Universitätsbehörden unter den
sich anbietenden Kandidaten gewählt.

Noch ein anderer besonderer Umstand hat unsere Auf-
merksamkeit erregt: Seit zehn Jahren verkünden die Deut-
schen das Erscheinen einer neuen Kunst. Die Münchener
Ausstellung 1908, die Herbsausstellung in Paris 1910, die
deutsche Abteilung der Turiner Ausstellung 1911 veran-
schaulichten diese neue Kunst, und wenn man in den
großen deutschen Städten die Magazine oder die Räume
durchwandert, in denen die Arbeiten der Kunstgewerbe-
schüler ausgestellt werden, kommt man in der Tat zu der
Überzeugung, wie wichtig sie geworden ist. Im Vergleich
zu dieser Überfülle scheinen die Versuche in Frankreich sehr
harmlos und die französischen Schulen sehr träge. Was
soll man eigentlich über die Vorwärtsbewegung denken?
Wir denken wahrlich nicht daran, hier unsere Ansicht über
die neue Kunst zum Besten zu geben, das ist Geschmack-
sache und läßt verschiedene Lesarten zu. Sicherlich fiel
es den Parisern nicht ein, anzunehmen, daß diese Formen
und Farben französischem Kunstsinn und französischem
Geschmack genügen könnten. Auch die Deutschen teilen
nicht alle die augenblickliche Vorliebe für die neue Richtung.
Doch wir alle haben uns gesagt, daß diese Möbel, die in
kleinen, hellen Salons französischer Häuser deplaciert er-
scheinen würden, sich recht wohl den großen und düsteren
Sälen in Deutschland harmonisch einfügen mögen. Was
sollen wir nun darüber sagen? Fragen wir uns lieber, wie
diese neue Kunst eigentlich entstanden ist, und was sich
hinter dieser lärmenden Kundgebung verbirgt?

Nun, um offen zu sein, wir haben nicht übel Lust,
diese neue Kunst in Deutschland für eine Verirrung, um
nicht zu sagen, einen Reinfall zu halten. Wenn man die
Erzeugnisse aus der Zeit 1895 — 1900 mit denen von heute
vergleicht, ist kein Zweifel mehr möglich. Damals prokla-
mierte man mit großem Tamtam die Notwendigkeit, alle
alten Traditionen über Bord zu werfen, und beim Entwurf
auch der gewöhnlichsten Gegenstände nur der Eingebung
der Phantasie zu folgen. Warum die Zeit vertrödeln mit
Umbildung von Modellen aus längst vergangenen und über-
wundenen Zeiten? Betrachtet die Natur und erfindet und
schaffet von Grund aus eine wahrhaft moderne Kunst!
Die geschweiftesten Formen sind die besten, und mit Hilfe
der Chemie lassen sich die verblüffendsten Farben erfinden.
So wurde der Stil gezeitigt, den man in Deutschland
»Jugendstil« (nach der Münchener Zeitschrift »Die Jugend«)
und bei uns »le style vermicelle« nennt.

Wenn wir aber heute in den Läden oder Schulen nach
Werken dieses Stils suchen, so werden wir auch nicht eines
finden. Der feurige Trank hat ausgegohren. Die Kämpfer
haben sich ausgetobt und schwenken, gehorsam wie eine
Kolonne germanischer Fußsoldaten, nach rechts um. Noch
sind die Farben schreiend, denn nichts lernt sich schwie-
riger als die Kunst des Nuancierens, doch nicht mehr so
schreiend wie ehedem. Die neuesten Möbel sind von
wahrhaft übertriebener Einfachheit. Es wimmelt darauf
von regelmäßigen Vierecken, Kreisen und Dreiecken. Man

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