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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 28.1917

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Jessen, Peter: Reisestudien, [4]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4829#0104

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Schauspieler in Frauenrolle

Jugendstil mit Stuck und schäbigen Plüschsitzen und darin die
albernsten Verballhornungen europäischer Dramen und Ope-
retten; es gibt winzige Volksbühnen im Schmierenstil; und es
gibt einige vorzügliche, nach alten Vorbildern in langsamem
Mühen höchst sachlich und geschmackvoll wiedererstandene
Mustertheater, voran das Kabuki-Theater in Tokio, schlichte, ge-
räumige Holzbauten mit der zweckmäßigen Drehbühne und
dem eigenartigen Zugangsweg über die Zuschauer weg, mit den
viereckigen kleinen Bezirken im Parterre, in denen die Besucher
bei Tee und Pfeife knien, mit niedrigen Logen in zwei Ge-
schossen ringsum, genau wie auf den ausgemalten Holzschnitten
des alten Masanobu. Auch die Schauspieler, noch heute in die
Sippen gegliedert, deren Namen und Wappen uns neuerdings
durch fleißige Deuter der alten Farbendrucke, wie Dr. Kurth in
Berlin, geläufig geworden sind, nehmen die gediegene Tracht der
Blütezeit, des 18. Jahrhunderts, in allen Einzelheiten zum Muster,
die Stoffe, die Schnitte, die Waffen, oft hochwertige Sammler-
stücke, die Hintergründe auf der breiten Bühne, Innenräume wie
Landschaften in allen Reizen derjahreszeiten. Auch im Einzelnen
erlebt der europäische Besucher überraschende Erinnerungen an
die Holzschnitte, die ja großenteils keinen tieferen Zweck hatten
als unsere heutigen Ansichtskarten, Andenken an die beliebtesten
Helden der Bühne. Darunter bekanntlich keinerlei Frau, sondern
lediglich Männer; die berüchtigte SadaYako, auf die um 1900
Europa hineingefallen ist, verhält sich zum echten Schauspiel
der Japaner wie eine Zehnpfennigvase zu einem alten Tempel-
gefäß. Auch die Schauspielkunst wahrt ihren eigenen altertüm-
lichen Stil, nicht wirklichkeitsgemäß hastend, sondern wie ein feierlicher Ausdruck der begleitenden Musik; die
ganzen Gestalten und die Mienen bildmäßig, sparsam, gemessen, bewußt gestellt. Oft löst eine kaum merkliche
Gebärde, eine Wendung des Kopfes, ein Zucken der Züge lauten, berechtigten Beifall aus. Ich habe Eindrücke
höchster Dramatik erlebt, die an Shakespearische Wirkungen erinnerten. Und nach dem ergreifenden Trauerspiel
die ausgelassensten Komödien, tolle Scherzspiele voll beweglichster Tänze. Das Merkwürdigste, daß die be-
deutenden Schauspieler in jeder Art von Rollen gleiche Meister waren: den tragischen Helden der berühmten
Ronintragödie, eine Sängerin im Teehaus und einen äußerst gelenkigen, sich überkugelnden Tänzer spielte derselbe
sechzig Jahre alte, treffliche Meister. In den Zwischenakten habe ich hinter der Bühne auch die Kunst bewundern
können, mit denen diese weltgewandten, zum Teil weitgereisten Männer sich eigenhändig ihre köstlichen Charakter-
köpfe schminken. Auch auf der Bühne ist in stetiger Arbeit das Alte zur Grundlage einer Reform geworden, bis in
die Theaterzettel und Textbücher hinein, bis in die Bilder, Fahnen und wallenden Banner an den Fassaden der
Theatergebäude. Selbst das Puppenspiel, von dem uns Utamaro und seine Zeitgenossen Beispiele geben, wird heute
mit großer Sorgfalt geübt und vermag auch den europäischen Zuschauer zu ergötzen. Und noch stehen auch die Ring-
kämpfe hoch in Gunst, für die bessere Gesellschaft in stattlicher neuer Halle, für das Volk auf den Jahrmärkten untei
freiem Himmel: dieselben feisten Gestalten,Gebärden,Kampfregeln, über die uns alte Bilder und Bücher unterrichten.

Über keines dieser kulturgeschichtlichen Son-
dergebiete fehlt es an älteren und heutigen, meist
farbig illustrierten Werken: über Kleider, Frisuren
und Schmuck der Frauen, über Priestergewänder
und Rüstungen, über Kopfbedeckungen und
Schuhe, über Theatergebäude und -Dekorationen,
No-Geräte und Masken, Tempelfeste und welt-
liche Vergnügungen aller Art. Mich hat mein
guter Stern solchen Kreisen nahe gebracht, die mit
aufrichtiger Hingabe daran arbeiten, altjapanische
Art zu wahren und neuzugestalten. Sieließen mich
hoffen, daß die Würde und die Reize jener alten
Kultur sich länger, als ich im Anfang fürchtete, be-
haupten mögen gegen die trüben Fluten des Aller-
weltsgeschmacks. Wirwerden im folgenden diesem
Problem in den Künsten selber nachzugehen haben,
indem wir einige Züge der alten Tempel-und Haus-
kunst, des Kunsthandwerks und der heutigen In-
dustrie zu zeichnen suchen. PETER JESSEN. Ringkampf

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