Steinbrücke
Neben und vor den beweglichen Kunstschätzen Japans
wird der in seiner Zeit beschränkte Besucher sich mit dem
Teil der Kunst auseinanderzusetzen suchen, die sich weder
nach Amerika noch nach Europa überführen läßt, der Bau-
kunst in ihren mannigfachen Äußerungen. Auf allen meinen
Fahrten habe ich es immer wieder erlebt: kein vorgängiges
Studium und keine besten Abbildungen können eines er-
setzen, den persönlichen Eindruck der Maßstäbe der Natur
und der in sie eingefügten Menschenwerke. Erst an Ort
und Stelle tritt der Betrachter zu dem Ganzen in das räum-
liche Verhältnis, das Genuß und Urteil wahrhaft lebendig
macht. Es sei darum auch in diesem Berichte erlaubt, nicht
die Einzelheiten vorauszustellen, sondern die Gesamteindrücke
und Zusammenklänge. Über die einzelnen Bauten unterrichtet
überdies neuerdings das schöne, leider seltene Lichtdruckwerk,
das im Jahre 1910 das Ministerium des Innern veranlaßt hat
(Japanese temples and their treasures, 3 Bände).
Leider wirft sich auch hier vorweg die Frage auf: wie
weit ist das üble Neue dem guten Alten im Wege? Die
Antwort ist nicht eben erfreulich. Das Schlimmste sind
nicht einmal die einzelnen charakterlosen Steinbauten
schlechtesten europäischen Geschmackes, die Putzfassaden
in den Hafenstädten, die Ziegelfronten der Amtsgebäude in
Tokio, der Jugendstil in den Geschäftsstraßen nahe den Bahn-
höfen. Schmerzlicher berührt es, daß die unwiederbringliche
Anlage ganzer Stadtviertel vernichtet worden ist durch über-
breite Prachtstraßen, daß man die edlen Holzbrücken durch
ordinäre Stein- und Eisenzüge ersetzt hat, daß bis in entlegene Dörfer hinein plumpe Telephonmasten die
zierlichen Maßstäbe der Bauernhütten vernichten und eine Sintflut allergemeinster Strecken- und Lichtreklame
Stadt und Land ärger verpestet als fast in Amerika. Und doch: der Kunstfreund gewöhnt sich, eine Art
geistiger Schutzbrille vor die Augen zu setzen und findet, daß hinter dem lächerlichen, verdrießlichen Firnis
Werke seiner warten, noch immer unvergleichlich hoch und herrlich wie am ersten Tag.
Unberührt bleibt zuvörderst die Natur, dieses stete Wechselspiel von Berg und Tal, Wasser und Land,
Wildnis und Kultur. Selbst die weiten Ebenen im Norden, die ich auf der Fahrt nach der Nordinsel
durchquerte, sind umrahmt durch bewegte, aufragende Berghintergründe. Im Gebirge die Seen, in den Tälern
die Wasserfälle, Bäche und Sturzflüsse, nahe dem Meere die breiten Kiesbetten der Ströme, an den Küsten
die Reihen der Inseln von äußerst phantastischer Bildung: ich sah die Hunderte winziger Fichteninselchen
bei Matsuschima im Norden, eines der drei volkstümlichen Naturwunder Japans, das burgartige Eiland Enoschima
nahe Kamakura, die Fülle der Augenblicksbilder auf der Fahrt längs der Binnensee, die berühmten Plätze am
Biwasee und andere Orte, die durch Hokusai und Hiroschige künstlerisch verklärt sind. Wie sehnt man sich
auf der Bahnfahrt von Tokio nach Kioto aus dem Zuge, um zu Fuß oder Karren den alten Tokaidoweg entlang
zu pilgern, von dem die alten Meister so vielerlei
Launiges zu plaudern wissen.
Auf Schritt und Tritt ist der Landschaft das
ihr gemäße Menschenwerk angepaßt. Selbst die
Hauptstädte, denen der Kunstfreund einen starken
Bruchteil seiner Zeit widmen muß, werden zu
einer Schule dessen, was wir heute Städtebau-
kunst nennen, nicht des Gewollten, bewußt Ge-
planten, sondern des mühelos und selbstverständ-
lich Gewachsenen. Wie sich in Tokio in den
Wohnvierteln der Wohlhabenden die holz- und
baumumsäumten Straßen den grünen Hügeln
einschmiegen, wie in den gedrängten Volks-
vorstädten sich die Verkehrsstraßen aus den
Wohnstraßen abheben, wie an den Flüssen und
der Bucht die dichten Speicher und die offenen
Teehäuser sich spiegeln, wie auf den immer-
grünen Höhen in Kioto sich die Tempel in stets
neuen Gruppen mit dem Baumwuchs und den
Doppeltempel in Nikko Bergabsätzen in eins schließen, wie in den
— 101
Neben und vor den beweglichen Kunstschätzen Japans
wird der in seiner Zeit beschränkte Besucher sich mit dem
Teil der Kunst auseinanderzusetzen suchen, die sich weder
nach Amerika noch nach Europa überführen läßt, der Bau-
kunst in ihren mannigfachen Äußerungen. Auf allen meinen
Fahrten habe ich es immer wieder erlebt: kein vorgängiges
Studium und keine besten Abbildungen können eines er-
setzen, den persönlichen Eindruck der Maßstäbe der Natur
und der in sie eingefügten Menschenwerke. Erst an Ort
und Stelle tritt der Betrachter zu dem Ganzen in das räum-
liche Verhältnis, das Genuß und Urteil wahrhaft lebendig
macht. Es sei darum auch in diesem Berichte erlaubt, nicht
die Einzelheiten vorauszustellen, sondern die Gesamteindrücke
und Zusammenklänge. Über die einzelnen Bauten unterrichtet
überdies neuerdings das schöne, leider seltene Lichtdruckwerk,
das im Jahre 1910 das Ministerium des Innern veranlaßt hat
(Japanese temples and their treasures, 3 Bände).
Leider wirft sich auch hier vorweg die Frage auf: wie
weit ist das üble Neue dem guten Alten im Wege? Die
Antwort ist nicht eben erfreulich. Das Schlimmste sind
nicht einmal die einzelnen charakterlosen Steinbauten
schlechtesten europäischen Geschmackes, die Putzfassaden
in den Hafenstädten, die Ziegelfronten der Amtsgebäude in
Tokio, der Jugendstil in den Geschäftsstraßen nahe den Bahn-
höfen. Schmerzlicher berührt es, daß die unwiederbringliche
Anlage ganzer Stadtviertel vernichtet worden ist durch über-
breite Prachtstraßen, daß man die edlen Holzbrücken durch
ordinäre Stein- und Eisenzüge ersetzt hat, daß bis in entlegene Dörfer hinein plumpe Telephonmasten die
zierlichen Maßstäbe der Bauernhütten vernichten und eine Sintflut allergemeinster Strecken- und Lichtreklame
Stadt und Land ärger verpestet als fast in Amerika. Und doch: der Kunstfreund gewöhnt sich, eine Art
geistiger Schutzbrille vor die Augen zu setzen und findet, daß hinter dem lächerlichen, verdrießlichen Firnis
Werke seiner warten, noch immer unvergleichlich hoch und herrlich wie am ersten Tag.
Unberührt bleibt zuvörderst die Natur, dieses stete Wechselspiel von Berg und Tal, Wasser und Land,
Wildnis und Kultur. Selbst die weiten Ebenen im Norden, die ich auf der Fahrt nach der Nordinsel
durchquerte, sind umrahmt durch bewegte, aufragende Berghintergründe. Im Gebirge die Seen, in den Tälern
die Wasserfälle, Bäche und Sturzflüsse, nahe dem Meere die breiten Kiesbetten der Ströme, an den Küsten
die Reihen der Inseln von äußerst phantastischer Bildung: ich sah die Hunderte winziger Fichteninselchen
bei Matsuschima im Norden, eines der drei volkstümlichen Naturwunder Japans, das burgartige Eiland Enoschima
nahe Kamakura, die Fülle der Augenblicksbilder auf der Fahrt längs der Binnensee, die berühmten Plätze am
Biwasee und andere Orte, die durch Hokusai und Hiroschige künstlerisch verklärt sind. Wie sehnt man sich
auf der Bahnfahrt von Tokio nach Kioto aus dem Zuge, um zu Fuß oder Karren den alten Tokaidoweg entlang
zu pilgern, von dem die alten Meister so vielerlei
Launiges zu plaudern wissen.
Auf Schritt und Tritt ist der Landschaft das
ihr gemäße Menschenwerk angepaßt. Selbst die
Hauptstädte, denen der Kunstfreund einen starken
Bruchteil seiner Zeit widmen muß, werden zu
einer Schule dessen, was wir heute Städtebau-
kunst nennen, nicht des Gewollten, bewußt Ge-
planten, sondern des mühelos und selbstverständ-
lich Gewachsenen. Wie sich in Tokio in den
Wohnvierteln der Wohlhabenden die holz- und
baumumsäumten Straßen den grünen Hügeln
einschmiegen, wie in den gedrängten Volks-
vorstädten sich die Verkehrsstraßen aus den
Wohnstraßen abheben, wie an den Flüssen und
der Bucht die dichten Speicher und die offenen
Teehäuser sich spiegeln, wie auf den immer-
grünen Höhen in Kioto sich die Tempel in stets
neuen Gruppen mit dem Baumwuchs und den
Doppeltempel in Nikko Bergabsätzen in eins schließen, wie in den
— 101