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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 28.1917

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Hoeber, Fritz: Peter Behrens' Gartenstadt Lichtenberg bei Berlin: eine gute Lösung des Kleinwohnungsproblems
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https://doi.org/10.11588/diglit.4829#0132

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Du darfst schön wohnen erst dann,
wenn alle andern überhaupt wohnen.
Johann Qottiieb Fichte.

I. DIE VOLKSWIRTSCHAFTLICHEN UND
BAUPOLITISCHEN GRUNDLAGEN

DIE Kleinwohnungsfrage, die schon vor dem
1. August 1914 für Deutschland von Tag zu
Tag wichtiger wurde, hat durch den Krieg
noch an Bedeutung zugenommen. Die wohnungs-
politischen Bedenken, die sich gegen dieenge Anhäufung
der industrialisierten Volksmassen in unseren fast un-
natürlich schnell anwachsenden Großstädten vorbringen
lassen, haben unter den veränderten inneren und äuße-
ren Verhältnissen nichts an ihrer Stichhaltigkeit ein-
gebüßt: die großstädtischen Mietskasernen als Wohn-
sitz unserer werktätigen Bevölkerung erscheinen nach
wie vor als ein schlimmer Komplex von unhygie-
nischen und unsozialen Lebensbedingungen, einer
rechtlich unverantwortlichen Wirtschaftsabhängigkeit,
vielfacher technischer Mängel und ästhetischer Scheuß-
lichkeit. In diesen von Licht und Luft kaum durch-
zogenen Hinterhöfen, dem ständigen Verkehr mit
moralisch verkommenen Elementen ausgesetzt, soll
und darf die zukünftige Jugend Deutschlands, der wir
die Verteidigung des Vaterlandes anzuvertrauen haben,
nicht mehr aufwachsen. An Stelle eines rein kapita-
listisch interessierten Bauunternehmertums, das die
Bodenpreise ungesund steigert, für die von ihm dar-
gebotene Wohnungsware unverhältnismäßig hohe Miets-
preise fordert und, ohne Rücksicht auf den Arbeits-
verdienst des Mieters, eintreibt, müssen nun endlich
genossenschaftlich organisierte Ballgesellschaften treten,
die als öffentliche Unternehmungen des Staates, der
Provinz oder der Gemeinden, über so viel Kapital
verfügen, daß sie sich mit einer vernünftigen, geringen
Verzinsung ohne Spekulationsprofit begnügen können.
Auf solcher finanziell gesunden, gesicherten Grund-
lage lassen sich dann alle die technischen Errungen-
schaften, an behaglichem Wohnungskomfort, an hygie-
nischen Einrichtungen, der Beleuchtung und Beheizung,
in bezug auf Wasser, Licht und Luft, durchführen,
deren der schwer arbeitende Westeuropäer zur körper-
lichen und geistigen Kräftigung nun einmal bedarf.
Bei dieser Freiheit der materiellen Bedingungen wird
sich auch noch das Letzte im Wohnungskomfort er-
reichen lassen, der geistige Luxus einer schönen Ge-
staltung des Hauses, die edle Bauform, die gewiß
kein zu unterschätzendes Moment in Hinsicht auf
Lebens- und Arbeitsfreude seiner Bewohner darstellt.
Wie das meiste der neuzeitlichen westeuropäischen
Zivilisation, so ist auch die >Gartenstadtbewegung«
— ein Begriff, unter dem sich alle diese wohnreforme-
rischen Bestrebungen zusammenfassen, — von den
angelsächsischen Völkern, England und den Vereinigten
Staaten von Amerika, ausgegangen. In diesen beiden
Ländern hatte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die
erste Großindustrie mit allen ihren Vorteilen und
Nachteilen herausgebildet. Damit war auch die Frage
nach in jeder Beziehung geeigneten Wohnungen für
ihre Arbeitermassen dringend geworden: In England
wie in Nordamerika entstanden in schnellstem Wachs-

tum nahe den Fabrikzentren ausgedehnte Gartenstädte,
wie Hampstead bei London, Port Sunlight bei Liver-
pool oder Bourneville bei Birmingham. Ihre sozialen
Gedanken und praktischen Absichten verbreitete eine
umfangreiche Fachliteratur, aus der als wichtigstes
Werk Ebenezer Howard, Gardencities of to morrow
(Gartenstädte in Sicht), hervorgehoben sei.1)

In industrieller Beziehungen hat das Deutsche Reich
während seiner schnellen Entwicklung der Zeit nach
1871 vom vorwiegend agrarischen zum vorwiegend
industriellen Staat in vielfacher Beziehung England
alsMuster und Vorbild genommen: englische Maschinen,
englische Fabrikanlagen, englische Herstellungs- und
Handelsmethoden, englische oder in England gebildete
Ingenieure bezeichnen den Anfang, werden aber bald
von dem Einheimischen ersetzt, verdrängt und schließlich
in bezug auf Qualität, Menge, Preiswürdigkeit völlig
überholt. — Mit den Kleinhaussiedelungen für Arbeiter
ist es ebenso gegangen: Das englisch-amerikanische
Ideal der industriellen Gartenstadt erscheint in den
ersten wenigen Arbeiterhäusern, diein denachzigerJahren
entstanden sind, natürlich nicht erreicht: zumeist traurig
aussehende Backsteinrohbauten, ohne die für Lebens-
lust und freudige Daseinsbetätigung so notwendigen
Grünanlagen, beweisen sie nur den geringen Unter-
nehmungsmut und den geringen sozialen Weitblick
der Fabrikherren, derartige Anlagen großzügig auszu-
gestalten. Der Fabrikant sieht nicht ein, daß der Be-
sitz eines eigenen Häuschens, die Bindung an die
Scholle, das tätige Interesse für ein — wenn auch
noch so kleines — immobiles Eigentum den Lohn-
arbeiter stärker an die bleibende Arbeitsgelegenheit
seiner Fabrik fesselt, als dies noch so häufige Lohn-
erhöhungen, die bei der ständig sich verteuernden
Lebenshaltung oft doch nur wie ein Tropfen auf den
heißen Stein wirken, zu tun vermögen. Gerade dieser
Gedanke der konservativen Fesselung des Industrie-
arbeiters an die Scholle muß als höchst wesentlich
immer wieder hervorgehoben werden bei dem nach
dem Krieg zu erwartenden politischen Radikalismus,
der auf solche Weise seiner sozialistischen und besitz-
feindlichen Schärfe großenteils entkleidet werden kann.
In durchaus gesunder Weise wird mit den Garten-
städten der überhand genommenen Freizügigkeit der

1) Vgl. den gut unterrichtenden Aufsatz von Prof.
Peter Behrens im Berl. Tagebl. 5. März 1908. 37. Jahrg.
Nr. 156 Abendausgabe: Die Qartenstadtbewegung. — Im
Anschluß an das genannte Werk von Howard, an Theodor
Fritsch, Die Stadt der Zukunft, und Franz Oppenheimer,
Die Siedelungsgenossenschaft, wird das Bauproblem der
neuzeitlichen Gartenstadt erörtert. Es wird sowohl gegen
einen Reißbrettschematismus, der nicht die natürlichen Ge-
gebenheiten des Geländes berüchsichtigt, Stellunggenommen,
wie gegen die hier künstlerisch und praktisch untaugliche
offene Bauweise unserer heutigen Villenkolonien: Das Schaf-
fen von geschlossenen Häusergruppen, wie sie Behrens ver-
langt, verdient nicht nur den ästhetischen Vorzug, sondern
ermöglicht auch, sehr ökonomisch genossenschaftliche Haus-
haltsführungen.

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