Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 28.1917

DOI Artikel:
Jessen, Peter: Reisestudien, [8]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.4829#0220

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Brücke und Teich mit Lotosblumen, aus den kaiserlichen Gärten in Peking

immer nur Teile des gewaltigen Materials in der
Hand halten und die Zusammenhänge zunächst
nur ahnen können. Im Sinne europäischer
Wissenschaft hat man gerade erst begonnen,
die entscheidenden Fragen zu stellen, durch
Aufnahmen den ersten Stoff zu beschaffen und
einige Richtlinien zu ziehen. Die Chinesen selber
haben weder ihre Schriftquellen kritisch gesichtet
noch Bestände bildlich festgelegt. Unsere schriit-
und kulturkundigen Forscher aus dem Westen
hatten Probleme zu behandeln, die ihnen näher
lagen, den Technikern andererseits fehlte die
Sprachkenntnis: so gab es bis vor wenigen
Jahren kein einziges Buch, aus dem man sich
auch nur über Einzelheiten ernstlich hätte unter-
richten können.

Dazu treten äußere Hemmnisse. In China
haben die großen Zerstörer, die Natur und der
Mensch, grausamer als anderwärts gewütet, durch
Erdbeben und Wasserfluten, Feuer und Schwert.
Bei dem häufigen Wechsel der Herrscherhäuser
und ärger als je in den Bürgerkriegen und den europäischen Einbrüchen der letzten Menschenalter sind
nicht nur das eine oder andere Bauwerk, sondern ganze Städte, Landschaften und Kulturgebiete bis in den
Grund vernichtet worden. Was nicht zerstört ist, war dem langsamen Verfalle ausgesetzt und ist es noch
heute. Denn die Hüter der Überlieferung, die Kaiser, pflegten mit seltenen Ausnahmen nur die Denkmäler
ihres eigenen Hauses zu betreuen; das Volk hat Ehrfurcht und Scheu nur vor dem Literarischen, vor Wort
und Schrift, nicht vor dem anschaulich Gestalteten. Das ist vollends zum Verhängnis geworden seit dem
Sturze des Kaisertums und den Wirren, die ihm voraufgingen. Wer heute die kaiserlichen Paläste, Gräber
oder Tempel besucht, möchte laut jammern über den Zerfall auch dessen, was nicht schon längst gewaltsam
vernichtet worden ist. Das Steingefüge durch Regen und Frost zersprengt, die Holzgerüste im Verfaulen,
die herrlichen Ziegel herabgebröckelt und zu Schutthaufen zusammengekehrt, das Marmorpflaster von Unkraut
überwuchert, und von den Beauftragten scheinbar niemand, der dem Unheil steuert. Bei den schlecht be-
aufsichtigten, bestechlichen Wächtern hat jeder reisende Kunstfreund und gar der Händler leichtes Spiel.
Man erlebt selbst da, wo hohe Würdenträger auf einige Ordnung halten, Beispiele rührender Harmlosigkeit.
Als man mir im Palast von Mukden den unersetzlichen Hausrat des großen Kaisers Kien-lung feierlich »ent-
siegelte«, wurden die schmalen Papierstreifchen, die als Verschluß dienten, mit dem Finger losgekratzt und
mit Speichel wieder angeklebt. Ich fürchte, daß auch die planmäßige Denkmalpflege, die man neuerdings
einzurichten sucht, nicht viel bessern wird, bevor es zu spät wird.

Aus allen diesen Gründen haben sich im weiten Reiche nur wenige Reste aus alter Zeit so erhalten,
wie etwa in Japan in dem ehrwürdigen Horiuji, wo man treulich die Vorschriften beachtet, nach denen
das Verfallende von Zeit zu Zeit regelrecht zu erneuern ist. In China haben zwar die baulustigen Mandschu-
kaiser im 18. Jahrhundert viel gebaut und manches
wiederhergestellt, beides in dem eleganten Klassi-
zismus ihrer Epoche. Aber dort, wohin ihre
höfische Kunst nicht reichte, sind Baukunst,
Dekoration und Plastik, Formen und Farben
so verroht, daß man die großen Vorbilder da-
hinter kaum zu ahnen vermag.

Dazu kommt der unermeßliche Umfang des
Reiches. Die Bauten von Peking und seiner
näheren und ferneren Umgegend, die alle
Reisenden besuchen, sind ja nur Kostproben
aus den unübersehbaren Schätzen der achtzehn
Provinzen, bedingt durch die nordische Land-
schaft und die besonderen Ansprüche der
Herrscher. Sie decken nur die Ebene oder
bescheidene Hügelzüge; ihre Einzelheiten be-
stimmt der kühl abwägende Verstand der nörd-
lichen Stämme. Im Süden, Westen und in der
Mitte dagegen sind die gewaltigen Anlagen der
Tempel, Klöster und Wallfahrtsplätze mit Vor- Hof> Mittelweg und große Halle im Kaiserpalast) Peking

— 178 —
 
Annotationen